Die Tote auf dem Opferstein: Kriminalroman
Weise erinnerte die Atmosphäre Kristian an Nygård. Vielleicht hallten durch alle alten Häuser Stimmen und nicht abgeschlossene Gespräche.
»Spürt ihr es auch …«, begann Kristian zu fragen und sah seine beiden Freunde an. Marianne nickte.
»Großmutter glaubt, dass die Frau, die hier früher gewohnt hat, nicht zur Ruhe kommt«, sagte Marianne, »aber Großvater sagt, das sei Unsinn. Er mag es nicht, wenn man darüber spricht.«
Marianne zögerte einen Augenblick.
»Wartet mal kurz, dann zeige ich euch, was ich letzten Sommer im Garten gefunden habe.« Sie verschwand im Haus und kehrte mit einer Art Schale aus angelaufenem Messing zurück.
»Was ist das?«, fragte Asko.
»Ein Mörser«, antwortete Marianne. »Der Stößel ist aber nicht mehr da. Ihr wisst schon, dieses Ding, mit dem man im Mörser etwas zerstößt.«
»Das wolltest du uns zeigen?«, fragte Kristian enttäuscht.
»Ja. Er ist irgendwie merkwürdig. Finde ich jedenfalls. Fühlt mal.« Sie reichte Kristian den Mörser. Zuerst stand er schweigend da, dann zuckte er zusammen. Mit aufgerissenen Augen starrte er seine Freunde an.
Nachdem er ihr den Mörser zurückgegeben hatte, fragte Marianne: »Du hast es auch gespürt, oder?«
»Ja, da war etwas …« Nachdenklich verstummte er.
»Was denn?«, wollte Asko wissen. »Darf ich es auch mal ausprobieren?«
»Natürlich. Hier.« Marianne reichte ihm das Ding. Asko hielt den Mörser in den Händen, ließ ihn jedoch urplötzlich fallen und fasste sich ans rechte Ohr. Der Mörser hinterließ eine tiefe Kerbe in den lackierten Dielen.
»Tut dir etwas weh?«, fragte Kristian besorgt.
»Nein. Da hat jemand geschrien. In meinem Kopf. Es war wie bei diesem Piepen, das nur ich hören kann.«
»In meinem Kopf sind Bilder aufgetaucht«, sagte Kristian, »und dann hatte ich einen ganz bestimmten Geschmack im Mund. Salz oder Blut. Ach, ich weiß es nicht.«
»Bei mir war es genauso«, sagte Marianne. »Hundertprozentig. Ist das nicht merkwürdig? Vielleicht ist es ein Zaubermörser.«
»Ich hatte das Gefühl, jemand hätte das Radio voll aufgedreht und wieder abgeschaltet, als ich den Mörser losgelassen habe. Habt ihr nichts gehört?«
Kristian schüttelte den Kopf.
»Der Stößel müsste auch noch irgendwo im Garten liegen. Sollen wir ihn suchen?«, fragte Marianne.
An diesem Abend konnte Asko nicht gut einschlafen. Er dachte an diesen merkwürdigen Mörser und ihre Gespräche über die Schicksalsgöttinnen. Über jede Familie wachte angeblich eine Schicksalsdise. Asko fragte sich, welche Göttin wohl ihn behütete. War es diejenige, die über seine biologische Familie wachte, oder die von Aina und Birger? Wenn sie wirklich den Schlüssel zum Schicksal in ihren Händen hielten, wussten sie vielleicht auch, warum eine Mutter ihren kleinen Sohn im Keller einsperrt.
Am Tag darauf saß Kristian verschlafen am Frühstückstisch, als die Nachbarin hereinstürmte und von dem entsetzlichen Ereignis berichtete. Der Schuhmacher und seine Frau, Mariannes Großeltern, waren in der Nacht gestorben. Der Arzt glaubte, eine Rauchgasvergiftung könne die Ursache sein. Möglicherweise war die Ofenklappe des alten Kachelofens nicht richtig geöffnet gewesen oder zugefallen. Marianne hatte glücklicherweise überlebt.
Tante Lea setzte sich kerzengerade auf.
»Gütiger Gott!«
»Ein böses Omen«, murmelte die Nachbarin, während sie zur Tür eilte, um die Kunde weiterzuverbreiten. »Ihr werdet noch an meine Worte denken. Das ist ein böses Omen. Ausgerechnet im Haus der Hexe.«
Kristian sank in sich zusammen. Als die Nachbarin gegangen war, musterte Tante Lea ihn.
»Was ist passiert?«, fragte sie.
»Ich habe nichts getan, Tante. Ich lag im Bett und habe geschlafen.«
»Erzähl mir mal, was ihr in den vergangenen Tagen getrieben habt. Ich weiß, dass ihr in dem Haus wart.«
»Warum hat sie gesagt: ›im Haus der Hexe‹? Heißt es so?«, fragte Kristian vorsichtig.
»Das ist eine alte Geschichte, die du nicht zu kennen brauchst. Fang an zu erzählen, Kristian.«
Kristian zögerte eine Weile. Dann vertraute er seiner Tante an, wie sie am vergangenen Tag den Stößel zu dem Mörser gefunden hatten, nachdem sie zwei Stunden in Knochen und altem Schutt gegraben hatten.
»Einen Stößel? Ausgerechnet dort.« Tante Lea schüttelte den Kopf. Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine tiefe Furche. Sie hob warnend den Zeigefinger.
»Pass auf dich auf. Dinge, die einmal begraben wurden, soll man ruhen
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