Die Tote im Badehaus
Operation auch schon beklagt. Ich nehme an, das ist der Mann, für den du den Autopsiebericht übersetzen solltest?«
Als ich nickte, verzog er das Gesicht, ähnlich wie damals Tante Norie, als sie mit der Qualität des Gemüses auf dem Bauernmarkt nicht zufrieden war. »Das ist also der Mann, der in Shiroyama im Gefängnis saß, dann nach Tokio zurückgekehrt ist und mit dir in einer ordinären Hostessenbar gesehen wurde?«
»Du siehst dir derartige Sendungen im Fernsehen an?« Ich hätte nicht gedacht, daß mein kopflastiger Cousin dazu Zeit hatte.
»Meine Mutter tut es.« Tom machte ein finsteres Gesicht. »Keine Angst, sie wird deinen Vater nicht anrufen. Sie schämt sich, daß so etwas passiert ist, während sie für dich verantwortlich war.«
»Sie ist nicht für mich verantwortlich«, protestierte ich. »Seit ich hier bin, habe ich allein in Tokio gelebt.«
»Da liegt das Problem. Als Mann in unserer Familie möchte ich dich bitten, aus Sicherheitsgründen bei uns einzuziehen. Sie haben versucht, deinem Freund die Beine zu brechen. Er ist ein großer Mann, sehr stark, und er hat sich gewehrt. Stell dir vor, was sie dir antun könnten. Und deinem Mitbewohner, er ist sehr klein …«
Hugh bewegte sich. Ich trat näher ans Bett und nahm seine Hand. Er drückte sie, aber sein grüngoldener Blick war verschwommen.
»Du wirst bald gesund, Hugh«, flüsterte ich. Ich mußte mich beherrschen, ihn nicht zu küssen.
»Kennen wir uns?« murmelte Hugh.
»Er hat drei verschiedene Medikamente bekommen, Rei«, sagte Tom. »Es war wahrscheinlich keine gute Idee, dich zu ihm zu lassen.«
»Rei«, sagte Hugh, als wolle er den Klang des Wortes ausprobieren. »Reiz ō ko. Das heißt Kühlschrank.« Ich wartete noch ein wenig, aber mein Liebhaber verabschiedete sich mit einem gewaltigen Gähnen. Er schlief wieder. Ich warf Tom einen hilflosen Blick zu und ließ mich von ihm hinausführen.
27
Tante Norie erwähnte mit keinem Wort, wie merkwürdig es war, daß ich um Mitternacht zu Besuch kam. Sie führte mich zu dem kleinen Bett mit den vielen Stofftieren im Zimmer meiner Kusine Chika. Währenddessen machte sie mir lauter liebgemeinte Vorschläge: ein einfaches Abendessen, bestehend aus Misosuppe, Reis und eingelegtem Gemüse, danach ein ausgiebiges Bad. Sie war beeindruckt, daß ich meine eigenen Toilettensachen und mein Nachthemd mitgebracht hatte. Wie perfekt, und wie nett der Besuch doch werden würde!
Nicht einmal meine eigene Mutter behandelt mich derart überschwenglich, dachte ich, während ich ihr zusah, wie sie in ihrer kleinen Küche hantierte und mir das Zen-Gericht und Tom ein reichlicheres Mahl zubereitete. Als ich eine Stunde später ins Bett schlüpfte, stopfte Tante Norie flauschige Badetücher um mich herum, damit ich es auch wirklich warm hatte. Das war wohl ihre Version übertriebener Mutterliebe. Bestimmt vermißte sie Chika, die in Kyoto studierte. Ich fragte mich, wie lange Tante Norie wohl mit meinem Bleiben rechnete.
Tom mußte erst nachmittags in die Klinik, aber er stand früh auf, um zu joggen und danach mit mir zu frühstücken. Tante Norie grillte jedem eine kleine Makrele und servierte sie mit etwas Misosuppe, Reis und natto, den stechend riechenden, fermentierten Sojabohnen, die die Basis von Toms neuer Diät bildeten.
»Es wird schon besser, findest du nicht?« Tom zwickte sich in den Bauch, was ich lächerlich fand. Tom mußte nicht abnehmen, um eine Frau oder sonst irgend etwas zu bekommen. Als ich ihm erzählte, was für eine mächtige Attraktion er an seinem Arbeitsplatz war, lachte er.
»Genau das gefällt mir nicht – das Wort ›mächtig‹. Warum denn nicht ›schlank‹? Dr. Tsutomu Shimura, die schlanke Attraktion im Saint Luke’s?«
Tante Norie lächelte über unsere Witzeleien, als sie uns die Morgenzeitung brachte. Dann warf sie einen Blick auf die Titelseite und blieb stehen. »Keine Sorge. Wenn es japanisch ist, kann ich nicht sonderlich viel lesen«, versicherte ich ihr.
»Gib sie mir, bitte. Rei sollte wissen, was man über sie schreibt«, sagte Tom. Er übersetzte mir zwei Artikel. Der erste war ein Interview mit Captain Okuhara über den mangelnden Fortschritt bei den laufenden Ermittlungen in dem Mordfall. Der kürzere Artikel ging über mich und war illustriert mit einer Skizze, die mein Exfreund Shin Hatsuda vor etwa einem Jahr angefertigt hatte. Das Bild zeigte mich in einer halboffenen yukata, während ich meine kurzen, nassen Haare kämmte. Es war
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