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Die Tote im Badehaus

Die Tote im Badehaus

Titel: Die Tote im Badehaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sujata Massey
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wahren Charakter herauszufinden und ob Sie sich der Justiz beugen werden – und das tun Sie doch bestimmt! In Anbetracht der Umstände war es eine sehr positive Story.«
    »Hmm.« Ich öffnete die Dose grünen Tee, die ich mir an dem Automaten vor der Tür gekauft hatte.
    »Junge Frauen lassen sich die Haare wie Sie schneiden, ist Ihnen das aufgefallen? Sie nennen es den Rei-Styru. In einem Salon in Harajuku kostet der Schnitt sechstausend Yen.«
    »Oh, nein.« Ich fuhr mir durch die Haare, die noch naß vom Duschen waren.
    »Sie müssen das lesen. Ich gebe Ihnen die Zeitschrift kostenlos, weil es ein so besonderes Ereignis ist. Bitte.« Mr. Waka sah so aufgeregt aus, daß ich das Magazin nahm, zusammenrollte und in meinen Rucksack steckte.
    »Sie sind zu freundlich«, murmelte ich pflichtgemäß zum Abschied.
    »Ich bin gar nicht freundlich. Nur ein Verehrer.«
    Auf dem Weg zur U-Bahn holte ich das Heft heraus und las. Ich konnte nicht glauben, daß Richard mit ihnen gesprochen hatte. Und Tom. Hätte ich nur mehr kanji lesen können; es war gräßlich, nicht entziffern zu können, was die Leute über mich sagten.
    Das Gesicht in die Zeitschrift vergraben, stieg ich langsam die metallenen Stufen der Fußgängerüberführung hinauf. Wegen des morgendlichen Berufsverkehrs roch es besonders stark nach Dieselabgasen. Das Stottern und Aufheulen der Autos unter mir war ein starker Kontrast zu der friedlichen Ruhe von Tante Nories Viertel. Ein kluger Mensch hätte freie Kost und Logis dort nicht einfach aufgegeben.
    Ein heftiger Windstoß riß mir die Zeitschrift aus der Hand. Gleichzeitig wurde der Verkehrslärm lauter, als wäre ein Auto hinter mir. Ich warf einen Blick über die Schulter und sah etwas absolut Verbotenes: ein großes schwarzes Motorrad fuhr über die Fahradrampe auf die Überführung.
    Das glänzende schwarze Gefährt schien es genau auf mich abgesehen zu haben. Ich wich aus. Der Fahrer, eine anonyme Gestalt mit Helm, korrigierte die Richtung und erhöhte die Geschwindigkeit.
    Ich drückte mich flach gegen das Sicherheitsgeländer, wie fast alle anderen auf der Fußgängerbrücke. Der kamikaze - Fahrerwar jetzt kaum mehr als drei Meter entfernt. Ich war zweifellos das Ziel, ohne eine Möglichkeit zur Flucht. Außer ich sprang.
    Eine wilde Verzweiflung ließ mich über das Geländer klettern. Zu spät fiel mir ein, daß das riesige Auffangnetz an der Außenseite gerade beim Reparieren war. Ich wollte abwarten, bis die Gefahr gebannt war. Ich war schon halb darübergeklettert, als das Motorrad gegen das Geländer fuhr.
    Eine schwarz behandschuhte Hand schoß vor und versetzte mir einen Stoß. Ich schwankte, fiel und griff verzweifelt nach dem Geländer. Meine rechte Hand schloß sich um einen Stahlstange, und ich hing in zehn Metern Höhe über den Bahngleisen.
    Alles war ganz schnell gegangen, aber ich nahm jedes Detail wie in Zeitlupe wahr. Meine Pumps rutschten mir von den Füßen und fielen hinunter; ihnen folgte mein Rucksack, der an meiner linken Schulter hing. Ich wurde immer schwerer. Jeder Teil von mir schien nach unten zu ziehen. Erfolglos schwang ich den linken Arm hin und her; ich wollte das Geländer erreichen, aber ich hatte nicht genügend Kraft. Klimmzüge hatte ich noch nie gekonnt, schon in der Schule waren sie mir mißlungen.
    Ich hatte zu viel Angst, um zu weinen, zu viel Angst, um irgend etwas anderes zu tun, als schnell zu atmen und zuzusehen, wie der Motorradfahrer über die Fußgängerrampe wieder auf die Straße raste.
    »Passen Sie auf«, rief mir eine Frau im Kostüm von der sicheren Seite der Fußgängerbrücke aus zu. Eine ganze Gruppe Pendler stand bei ihr; sie machten besorgte Bemerkungen und diskutierten, ob sie die Polizei oder die Feuerwehr rufen sollten. Das ist egal, wollte ich sagen, so lange kann ich mich sowieso nicht mehr festhalten.
    Ein paar zerlumpte Obdachlose hatten sich direkt unter mir versammelt und hielten diverse Tüten und Teile ihrer Papphütten hin, als könnten sie damit meinen Fall sicher auffangen. In der Ferne hörte ich Verkehrsgeräusche und vielleicht eine Sirene.
    »Nehmen Sie das.« Ich hörte eine rauhe Stimme und blickte nach oben. Ich sah das schmutzige Gesicht des Obdachlosen, über den ich einmal gestolpert war und dem ich das Essen geschenkt hatte. Er hielt das Seil in der Hand, mit dem er sich sonst Decken um den Körper band.
    Er ließ das Seil nach unten, und nach ein paar vergeblichen Versuchen erwischte ich es mit der linken Hand.

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