Die Tote im Badehaus
hätten sie mitbringen sollen! Ich finde das schön, so eine zweite Chance im Leben und in der Liebe«, sagte Yuki, als ich ihnen von Mrs. Chapman erzählt hatte.
»Das nächste Mal. Gibt’s hier auch eine Speisekarte?« Ich war ganz schwach, weil ich das Mittagessen ausgelassen hatte, und deshalb bestellte ich den größten Kuchen in der Vitrine: einen Apfelstrudel. Taro gefiel meine Wahl; er selbst nahm einen Schwarzwälder Kirschkuchen. Yuki, die noch ihre Neujahrsdiät hielt, blieb bei ihrem schwarzen Kaffee.
Nachdem die Kellnerin uns das Gebäck gebracht hatte, stellte Taro mein antikes Kästchen auf den Tisch. Ich öffnete es und stellte fest, daß das Zeitungspapier, mit dem das Kästchen ausgekleidet gewesen war, entfernt worden war. Nur schmale Papierstreifen und Klebereste waren noch da.
»Was ist denn da passiert?« Ich verbarg meine Bestürzung nicht.
»Ich habe das Zeitungspapier bereits entziffert. Es stammt aus den frühen sechziger Jahren, weil Kronprinz Naruhito in einem Artikel erwähnt wird. Sehen sie, ich habe Ihnen eine Übersetzung gemacht.« Taro reichte mir einen maschinegeschriebenen Text. »Sie scheinen traurig zu sein. Sehen Sie noch einmal in das Kästchen.«
Ich sah mir die Innenseite des Kästchens an und fuhr mit dem Finger über das vernarbte Holz. Die Originallackierung war abgesplittert, und plötzlich sah ich es: Buchstaben, die in hiragana eingraviert waren, dem phonetischen japanischen Alphabet. Es war das leichteste Alphabet; ich hatte es schon mit neun Jahren beherrscht.
»Shiroyama«, buchstabierte ich. »Vielleicht kommt die Schachtel ja doch von dort.«
»Da sind noch mehr Buchstaben«, sagte Yuki.
Ich sah noch einmal genauer hin und las: »Uchida Miyo«. Das war der Name der verlorenen Prinzessin aus der Sage von Shiroyama, die Taro am Silvesterabend erzählt hatte.
»Wir wissen nicht, ob es echt ist«, sagte ich und versuchte mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen. Jeder hätte es hineinritzen können. Doch die Furchen der Buchstaben hatten glatte Ränder, als wären sie schon vor langer Zeit geschnitzt worden.
»Wir könnten das Kästchen in einem der Antiquitätengeschäfte hier in der Gegend begutachten lassen«, schlug Taro vor.
»Diese Leute wissen nur, wie man die Preise für Touristen erhöht. Ich gehe lieber zu Mr. Ishida.« Yasushi Ishida war der Mann, der mir vor einem Jahr diese phantastische tansu- Kommodeverkauft hatte. Ich würde auf dem Heimweg vorbeigehen.
»Jedenfalls ist das eine nette Ablenkung von all den Problemen«, meinte Yuki.
»Problemen?« wiederholte ich.
»Hugh-san ist im Gefängnis. Er soll den Mord begangen haben. Wußten Sie das nicht?« Yuki machte große Augen.
»Er ist schon wieder frei«, sagte ich kurz.
»Wirklich?« fragte Taro.
»Rei-san, Sie haben ihn doch nicht etwa gesehen?« klagte Yuki.
Der Kaffee nahm den falschen Weg, und ich hustete in meine Serviette.
»Das ist aber keine gute Idee. Hugh-san ist vielleicht im Moment frei, aber die meisten Leute glauben, daß er ein Verbrecher ist!« Taros Stimme war so scharf, daß die beiden Großmütter, die schweigend am nächsten Tisch aßen, den Kopf wandten.
»Ich dachte, Sie hätten ihn gern«, sagte ich.
»Er war sehr freundlich und lustig, aber die Polizei nimmt niemanden fest, wenn nicht ein starker Verdacht besteht«, sagte Taro. »Sein wahrer Charakter muß anders sein als unser erster Eindruck!«
»Wenn er angeklagt wird, dann vergessen Sie nicht, daß der Richter in neunundneunzig Prozent aller Fälle verurteilt. Das ist das japanische System«, sagte Yuki nüchtern.
»Dieses japanische System, ich glaube, das verstehe ich nicht ganz, Yuki. Ich frage mich zum Beispiel, warum Sie und Ihr Mann unbedingt mein Sexualleben vor Captain Okuhara ausbreiten mußten.« Die Wut, die eine Woche lang in mir geschlummert hatte, brach nun doch durch.
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst es nicht sagen!« keifte Yuki ihren Mann an.
»Wenn ein Polizist fragt, muß man die Wahrheit sagen«, gab Taro zurück. »Rei-san muß beschützt werden! Dieses Mädchen weiß nichts über das Wesen der Männer.«
»Verzeihen Sie«, sagte ich. »Wenn Sie mich beleidigen möchten, dann tun Sie es bitte direkt.«
»Rei-san, ich bin nicht mit Ihnen verwandt, deshalb kann ich Ihnen nichts vorschreiben. Aber bitte, Sie dürfen ihn nicht wiedersehen. Sie müssen vorsichtig sein«, sagte Taro.
»Das bin ich immer.« Ich riß die Rechnung aus dem kleinen Silberständer, in den die
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