Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
schweigend zugehört. Also hatte Julius tatsächlich nahtlos dort weitergemacht, wo er bei seiner Abreise vor einigen Jahren aufgehört hatte – sich ohne Not Feinde zu machen. Dabei musste er wissen, dass die Medicinal-Deputation eifersüchtig über ihr Recht wachte, die in Marburg praktizierenden Ärzte zu prüfen und nach ihren Leistungen zu beurteilen. Laumann presste die Zähne aufeinander. Dass Julius es nicht für nötig erachtete, seinem Elternhaus einen Besuch abzustatten, war eine Sache. Aber dass er mutwillig verspielte, was man in vielen mühsamen Gesprächen in Marburg und Kassel für ihn erreicht hatte, erzürnte ihn.
»Wenn ich das richtig verstehe, gab es keine ordentliche gerichtsmedizinische Untersuchung, weil sie von einem Arzt durchgeführt wurde, den wir zwar berufen, aber noch nicht geprüft haben?«, fasste Baldinger zusammen. Sein Mundwinkel hob sich unter einem leisen Schmunzeln. »Was wollen Sie nun von uns? Sollen Professor Michaelis und Doktor Fichtner die Obduktion übernehmen?«
»Ich erhoffe mir erst einmal eine Meinung, ob eine Obduktion überhaupt notwendig ist.« Hille fuhr sich durch die Haare, blickte kurz zu Michaelis, der bislang regungslos zugehört hatte. »Der Fall ist kompliziert. Der junge Laumann bat mich über Wachtmeister Schmitt um eine Obduktionserlaubnis. Allerdings war der Herr Regierungsadvokat Wittgen heute Nachmittag bei mir und hat mir mitgeteilt, dass er nach Kenntnis der bisherigen Untersuchung eine Obduktion rundheraus ablehnt. Eindringlich ablehnt.«
»Gibt es denn Gründe, die dagegen sprechen?«, fasste Baldinger nach.
»Sie wiegen schwerer als die Gründe, die dafür sprächen.« Hille nahm eine lederne Mappe auf, die vor ihm auf dem Tisch lag, und hielt sie ins Licht, um besser lesen zu können. »Wie bereits gesagt, das junge Mädchen wurde am Lahnufer nahe dem Dörfchen Wehrda aufgefunden. Sie lag mindestens einen Tag am Ufer, bis sie entdeckt wurde. Tiere haben Gesicht und Bauchraum aufgerissen. Den mysteriösen Wolf können wir aufgrund der Fraßspuren ausschließen, und ich rate angesichts der gespannten Lage, das nach außen hin auch zu tun. Alles macht den Anschein, als sei das Mädchen schlicht gestürzt und ertrunken.«
»Immerhin etwas«, brummte Baldinger. »Und warum will der junge Laumann sie trotzdem aufschneiden?«
»Weil ihre Kleidung kotbesudelt war«, kam Fichtner dem Schultheiß zuvor. Unruhig rutschte er auf seinem Platz hin und her, als falle es ihm schwer, sich zu gedulden. »Er schließt daraus, dass sie nicht ertrunken sein kann.«
Laumann konnte sehen, wie Michaelis’ Brauen nach oben wanderten.
»Ich würde die Obduktion gerne verweigern, wenn sie nicht unbedingt erforderlich ist«, beendete Hille seine Ausführungen. »Der Herr Regierungsadvokat Wittgen hat mächtige Freunde am Hof in Kassel. Unter uns gesprochen: Ich halte es für gewagt, ihn zu brüskieren.« Er klappte die Mappe wieder zu. »Dazu möchte ich Ihren Rat einholen.«
»Das ist nicht allein eine medizinische Frage«, ließ sich Michaelis nun endlich vernehmen. Er hatte eine ruhige, angenehme Stimme, die ihm augenblicklich die Aufmerksamkeit aller zutrug. »Ihre Einschätzung bezüglich Wittgen teile ich in allen Punkten. Abgesehen davon sehe ich nach Lage der Dinge keine zwingende Veranlassung für eine Obduktion. Es sei denn, man wollte der Ursache der Darmentleerung nachgehen, doch ich bezweifle, dass der Aufwand den zu erwartenden Nutzen aufwiegt. Viel wichtiger erscheint mir die Frage, wie wir mit dem vorwitzigen jungen Mann umgehen, den Sie uns als zukünftigen Stadtphysikus empfohlen haben.« Sein Blick wanderte zu Laumann und Baldinger. »Meine Einwände haben Sie damals übergangen, obwohl ich Kenntnis darüber hatte, dass Ihr Sohn – verzeihen Sie, Herr Stadtrat Laumann – von schwierigem Charakter ist. Sein eigenmächtiges Handeln ohne Rücksprache mit der Deputation oder wenigstens mit jemandem Befugtem belegt dies erneut. Doktor Fichtner berichtete mir obendrein, dass der junge Mann selbst auf seine Aufforderung hin, das Anatomische Theater zu verlassen, darauf beharrte, die Untersuchung durchzuführen. Vermutlich hätte er auch die Obduktion ohne Erlaubnis vollzogen, wenn Doktor Fichtner nicht rechtzeitig vor Ort gewesen wäre. Ich frage mich, ob es klug ist, die Berufung aufrecht zu erhalten, oder ob wir uns nicht eingestehen sollten, einen Fehler gemacht zu haben und die Stelle neu ausschreiben.«
Baldinger wog bedächtig den Kopf.
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