Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
zog den Kopf ein und stolperte den Rübenstein hinauf, eine enge Gasse, deren Schwärze ihn unsichtbar machte für die Augen der anderen. Er hatte damit gerechnet, dass der Grimm wiederkommen würde, aber er hatte nicht gedacht, dass es so bald sein würde. Als er vor dem Haus des alten Hirschner auf Sophie oder ihren Vetter gewartet hatte, hatte er gehofft, dass etwas geschehen würde. Dass sich dieses Knäuel in seinem Kopf endlich lösen und er verstehen würde. Stattdessen war alles nur noch schlimmer geworden. Er wusste selbst nicht, was über ihn gekommen war, als er den Grimm geprügelt hatte, schließlich war der Grimm ein Freund von Sophie. Aber er hatte ihn verfolgt, als ahnte er, dass Hans ihnen auf der Spur war. Ihnen, den Studenten, die Helene den Tod gebracht hatten.
Er stolperte, schlug hart mit dem Knie auf dem feuchten Sandstein auf. Schmerzhaft gruben sich seine Zähne in die Unterlippe, während er sich wieder hochstemmte, bemüht, keinen Laut von sich zu geben. Er verstand es nicht, nichts von all dem, was hier geschah. Vielleicht hätte er es verstanden, wenn er rechtzeitig zu Sophie gegangen wäre. Doch er hatte sie beobachtet, wie sie zum Haus der Grimm-Brüder geeilt war. Sie war in Sorge gewesen, aufgelöst. Sie würde es ihm übelnehmen, was er dem Grimm angetan hatte, ihn wahrscheinlich beschimpfen und fortjagen.
Hans hielt inne, der Atem schmerzte in seiner Brust. Dann lehnte er den Unterarm an die Hauswand und ließ der stummen Verzweiflung ihren Lauf. Er weinte um Helene, seine Prinzessin, und über seine Hilfslosigkeit, die ihn zu verschlingen drohte.
*
Der Nebel war so dicht, dass er kaum seine eigenen Füße erkennen konnte. Feuchte Finger strichen über seinen Nacken, sein Gesicht, krochen unter sein Hemd, während er weiterhastete. Er spürte den nassen Grund, der unter seinen Schritten quatschend nachgab, Gras schlug um seine Beine, ließ Hosenbeine kalt und klamm an der Haut kleben. Sein Atem ging schwer, er keuchte, hustete, aber er konnte nicht stehen blieben, durfte es nicht.
Gehetzt warf er einen Blick über die Schulter, doch der Nebel stand hinter ihm wie eine Wand, die jedes Geräusch, jeden Laut, jede Bewegung schluckte. Sein Herz trommelte in seiner Brust, Furcht schnürte ihm die Luft ab. Er wusste, es war nicht mehr weit, aber dennoch war ihm, als liefe er auf der Stelle, während er nichts um sich sah außer dem undurchdringlichen Nebel.
»Sophie!« Sein Schrei wurde geschluckt, kaum dass er seine Lippen verlassen hatte. Wo bei allen Himmeln war sie? Sie musste doch ahnen, dass es hier war, sie verfolgte, viel zu dicht schon.
»Sophie!« Panik mischte sich in seine Stimme, ließ den Ruf in ein Wimmern abgleiten, als ihm die Vergeblichkeit bewusst wurde. Er war hier alleine, er konnte sie nicht retten, niemanden konnte er retten.
Er hastete weiter, strauchelte. Eine Bewegung hinter ihm, er fuhr herum, doch da war wieder nur Nebel.
»Zeig dich endlich!«, brüllte er, zitternd vor Kälte und Angst. »Komm heraus, du Monstrum!«
Von irgendwoher drang ein Kichern, leise und hämisch. Er stolperte herum, schlug mit den Händen ziellos durch den Nebel. Die Hexe! Sie musste hier sein, und sie würde ihn holen, wie sie all die Kinder holte und fraß! Aber Helene war kein Kind mehr gewesen, rammte sich ein Gedanke in seinen Kopf, mit einer Gewalt, die ihn zitternd herumfahren ließ. Sie war hier, um auch ihn zu holen. Ihn und Sophie, die da draußen im Nebel war und ihn nicht hörte, vielleicht nicht einmal ahnte, in welcher Gefahr sie sich befand.
»Sophie!« Seine Stimme kippte in ein piepsiges Flehen. »Sophie, wo bist du?«
»Sie ist nicht hier.« Zu tief, schrie etwas in ihm, die Stimme war zu tief. Es war der Wolf, der ihn jagte, nicht die Hexe!
Panisch schlug er um sich, als sich der Nebel vor ihm teilte. Dunkelheit umfing ihn, dann ein greller Blitz.
»Wilhelm!«
Etwas fasste seine Schulter, wollte ihn rütteln, aber er stieß die Klaue fort. Er musste fort, weg von hier, in Sicherheit, dort, wo …
»Wilhelm!«
Eindringlicher dieses Mal, und endlich lichtete sich das Dickicht des Albtraums und ließ ihn in das trübe Licht einer einzelnen Lampe blinzeln. Er brauchte einen Moment, bis er auf der Bettkante Jakob erkannte, der ihn besorgt ansah.
»Wilhelm? Ist alles in Ordnung?«
»Ich … habe geträumt. Glaube ich.« Noch immer meinte Wilhelm die Feuchte des Nebels auf der Haut zu spüren, aber das konnte ebenso gut sein eigener Schweiß sein. Nein,
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