Die Tote in der Bibliotek
Inspektor Slack klärte ihn freundlicherweise auf: «Im Privatleben, sozusagen, Sir, geschränkt sich eine Dame auf ein oder zwei verschiedene Make-ups, eins für den Tag, eins für den Abend. Frauen wissen, was ihnen steht, und bleiben dabei. Aber diese Berufstänzerinnen müssen gewissermaßen auf vielen Hochzeiten tanzen. An einem Abend ist es ein Tango, am nächsten ein viktorianischer Tanz mit Krinoline, dann wieder ein Indianertanz oder ein ganz normaler Gesellschaftstanz. Da ist natürlich jedes Mal ein anderes Make-up gefragt.»
«Großer Gott!», sagte der Colonel. «Kein Wunder, dass die Leute, die diesen Schminkkram herstellen, ein Vermögen damit machen.»
«Leicht verdientes Geld, kann man da nur sagen», meinte Slack, «leicht verdientes Geld. Ein bisschen was muss allerdings in die Reklame investiert werden.»
Colonel Melchett riss seine Gedanken vom faszinierenden, uralten Thema weiblicher Verschönerung los und sagte zu Superintendent Harper, der zu ihnen getreten war: «Bleibt uns noch dieser Eintänzer. Übernehmen Sie ihn, Superintendent?»
«Ja, Sir.»
Im Hinuntergehen fragte Harper: «Was halten Sie von der Geschichte, die Mr. Bartlett uns erzählt hat, Sir?»
«Von seinem Auto? Ich glaube, Harper, wir sollten den jungen Mann im Auge behalten. Irgendwas ist da faul. Möglicherweise ist er gestern Abend doch noch mit Ruby Keene weggefahren.»
IV
Superintendent Harper war ein Mann, der stets ruhig, freundlich und ganz und gar unverbindlich blieb. Fälle, bei denen die Polizei zweier Grafschaften zusammenarbeiten musste, waren immer schwierig. Er schätzte Colonel Melchett zwar als einen fähigen Chief Constable, war aber dennoch froh, das anstehende Verhör allein durchführen zu können. Nur nicht zu viel auf einmal, so lautete seine Devise. Reine Routinefragen beim ersten Mal, dann war der Befragte erleichtert und beim nächsten Verhör weniger auf der Hut.
Vom Sehen kannte Harper Raymond Starr bereits. Ein Prachtexemplar von Mann, groß und gut aussehend, dunkelhaarig, elegant und geschmeidig, schneeweiße Zähne im sonnengebräunten Gesicht. Er hatte eine angenehme, freundliche Art und war im Hotel überaus beliebt.
«Ich werde Ihnen wohl kaum weiterhelfen können, fürchte ich, Superintendent. Ich kannte Ruby zwar recht gut – sie war ja seit über vier Wochen hier, und wir haben unsere Tänze zusammen einstudiert und so weiter –, aber viel kann ich Ihnen im Grunde nicht über sie sagen. Ein nettes, aber nicht sehr intelligentes Mädchen.»
«Was uns besonders interessiert, sind ihre Freundschaften. Ihre Freundschaften mit Männern.»
«Das kann ich mir denken. Also, ich weiß darüber nichts. Sie hatte hier im Hotel immer ein paar junge Männer im Schlepptau, aber nichts Spezielles. Die Jeffersons haben sie ja praktisch mit Beschlag belegt.»
«Die Jeffersons, ja.» Harper hielt nachdenklich inne und warf dem jungen Mann einen scharfen Blick zu. «Was halten Sie von dieser Sache, Mr. Starr?»
«Von welcher Sache?», fragte Raymond Starr kühl.
«Wussten Sie nicht, dass Mr. Jefferson Ruby Keene adoptieren wollte?»
Das schien Starr neu zu sein. Er spitzte die Lippen und stieß einen Pfiff aus. «Das raffinierte kleine Biest! Na, Alter schützt vor Torheit nicht.»
«So sehen Sie das also.»
«Wie sonst? Aber wenn der alte Knabe unbedingt jemanden adoptieren wollte, wieso hat er sich dann nicht ein Mädchen aus seinen eigenen Kreisen ausgesucht?»
«Hat Ruby Keene Ihnen gar nichts davon erzählt?»
«Nein. Ich weiß, dass sie sich über irgendetwas sehr gefreut hat, aber ich wusste nicht, worüber.»
«Und Josie?»
«Die müsste eigentlich gewusst haben, was da im Busch war. Bestimmt hat sie das Ganze eingefädelt. Sie ist nämlich nicht auf den Kopf gefallen, diese Josie.»
Harper nickte. Josie hatte ihre Kusine ja überhaupt erst hergeholt, und zweifellos hatte sie deren engen Kontakt mit Mr. Jefferson gefördert. Kein Wunder, dass sie aufgebracht gewesen war, als Ruby nicht zu ihrer Tanzvorführung erschienen und Conway Jefferson in Panik geraten war. Sie hatte ihre Felle davonschwimmen sehen.
«Meinen Sie, Ruby konnte ein Geheimnis für sich behalten?», fragte Harper.
«So gut wie jeder andere auch. Über ihre Privatangelegenheiten hat sie nicht viel verlauten lassen.»
«Hat sie irgendwann einmal etwas – egal, was – von einem Freund erzählt, jemandem von früher, der sie besuchen wollte oder mit dem sie Ärger hatte – Sie kennen das ja
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