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Die Tote in der Bibliotek

Die Tote in der Bibliotek

Titel: Die Tote in der Bibliotek Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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verstorbenen Tochter einnehmen sollte. Und Ruby Keene hat ihre Chance erkannt und sie genutzt, so gut sie konnte. Das klingt herzlos, ich weiß, aber ich kenne viele solche Fälle. Das junge Dienstmädchen bei Mr. Harbottle zum Beispiel. Eine ausgesprochen gewöhnliche Person, aber einigermaßen wohlerzogen. Mr. Harbottles Schwester wurde zu einer sterbenden Verwandten gerufen, und als sie wiederkam, kannte das Mädchen keine Grenzen mehr und saß ohne Häubchen und Schürze lachend und schwatzend im Salon. Miss Harbottle wies sie scharf zurecht, das Mädchen wurde unverschämt, und schließlich hat der alte Mr. Harbottle seiner Schwester mitgeteilt, sie habe ihm lange genug den Haushalt geführt und er werde sich wohl nach einer anderen Lösung umsehen müssen. Sie war wie vor den Kopf geschlagen.
    Im Dorf hat die Geschichte ungeheures Aufsehen erregt, aber die arme Miss Harbottle musste fort und wohnt jetzt höchst unkomfortabel in möblierten Zimmern in Eastbourne. Es gab natürlich allerhand Gerede, aber ich glaube nicht, dass etwas daran war. Der alte Mann fand es wohl einfach angenehmer, von einem fröhlichen jungen Mädchen gesagt zu bekommen, wie klug und amüsant er sei, als sich von seiner Schwester ständig seine Fehler vorhalten zu lassen, auch wenn sie eine gute Wirtschafterin war.»
    Nach einer kurzen Pause fuhr Miss Marple fort: «Und dann der Drogist, Mr. Badger. Hat viel Aufhebens von der jungen Verkäuferin in seiner Kosmetikabteilung gemacht und seiner Frau gesagt, sie müssten sie wie eine Tochter behandeln und sie zu sich ins Haus nehmen. Mrs. Badger war da natürlich anderer Meinung.»
    «Wenn es wenigstens ein Mädchen aus seinen eigenen Kreisen gewesen wäre, die Tochter eines Freundes…»
    «Aber das wäre doch nicht annähernd so befriedigend für ihn gewesen!», unterbrach ihn Miss Marple. «Es ist wie mit König Cophetua und der Bettlerin. Für einen müden, einsamen alten Mann, dessen Familie ihn möglicherweise vernachlässigt» – sie schwieg einen Moment – «ist es doch wesentlich reizvoller, sich um jemanden zu kümmern, der von seiner Großzügigkeit ganz überwältigt ist, um es etwas melodramatisch auszudrücken. Ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine. Er fühlt sich dadurch ungleich bedeutender – der gütige Monarch! Und die Beschenkte ist tiefer beeindruckt, was für den alten Mann ebenfalls ein sehr angenehmes Gefühl ist.»
    Sie hielt kurz inne und erzählte dann weiter: «Mr. Badger machte dem Mädchen die üppigsten Geschenke: ein Brillantarmband und einen sündhaft teuren Radioapparat mit Plattenspieler. Hat dafür einen Großteil seiner Ersparnisse ausgegeben. Aber Mrs. Badger, die um einiges schlauer war als die arme Miss Harbottle – die Ehe ist da ein guter Ratgeber –, hat sich die Mühe gemacht, genauer nachzuforschen. Sie fand heraus, dass das Mädchen mit einem höchst zweifelhaften jungen Mann liiert war, der etwas mit Pferderennen zu tun hatte, und dass sie das Armband versetzt und ihm das Geld gegeben hatte. Mr. Badger war hell empört, und die Affäre nahm ein glimpfliches Ende. Zum nächsten Weihnachtsfest hat er seiner Frau einen Brillantring geschenkt.»
    Miss Marples freundliche, kluge Augen begegneten denen Sir Henrys. Er fragte sich, ob sie ihm mit ihrer Geschichte einen Hinweis geben wollte.
    «Wollen Sie damit andeuten», sagte er, «dass sich die Einstellung meines Freundes zu Ruby Keene geändert hätte, wenn es einen jungen Mann in ihrem Leben gegeben hätte?»
    «Ich denke schon. Mag sein, dass er in ein, zwei Jahren selbst eine Heirat für sie arrangiert hätte – was allerdings eher unwahrscheinlich ist; Männer sind ja im Allgemeinen ziemlich egoistisch. Jedenfalls hätte Ruby Keene, wenn sie einen Freund gehabt hätte, bestimmt nichts darüber verlauten lassen.»
    «Und das hätte ihr der junge Mann übel genommen?»
    «Das ist in meinen Augen die plausibelste Erklärung. Wissen Sie, mir ist aufgefallen, dass Rubys Kusine, die junge Frau, die heute Morgen in Gossington Hall war, richtiggehend wütend auf das tote Mädchen zu sein schien. Und was Sie mir erzählt haben, würde auch erklären, warum. Sie hatte sich zweifellos schon darauf gefreut, ein großes Stück von dem Kuchen abzubekommen.»
    «Also ein kalt berechnender Charakter?»
    «Das wäre ein zu hartes Urteil. Die Arme muss ihren Lebensunterhalt sauer verdienen, da kann man nicht von ihr erwarten, dass sie sich groß darüber grämt, wenn ein wohlhabender Mann und eine

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