Die tote Schwester - Kriminalroman
gekommen, sich zu rasieren oder sonstige Wiederaufbereitungsmaßnahmen in die Wege zu leiten.
Sich aufhübschen, so hatte Lena es immer genannt.
»Herr Meier«, hörte er hinter sich die Stimme des Dienststellenleiters.
Es ging zu wie im Taubenschlag.
Der etwa 60-jährige, glatzköpfige und recht kleine Mann stand im Türrahmen. Schräg hinter ihm Silvia Pütz mit einer Tasse Kaffee in der Hand, Zbigniew mit einem Achselzucken deutend, dass sie es nicht verhindern konnte.
»Es tut mir aufrichtig leid. Ich hörte, Sie wollten am Montag wieder den Dienst beginnen? Sind Sie denn psychisch und körperlich belastbar?«
»Ja.«
Er hatte lediglich ein kleines Problem mit Porzellantassen am Morgen, manchmal.
»Aber das psychologische Abschlussgutachten steht noch aus.«
»Ich werde es nachholen.«
»Gehe ich recht in der Annahme, dass ich Sie besser nicht zum normalen Dienst einteilen sollte?«, fragte der Leiter vorsichtig.
Zbigniew kannte ihn. Hinter seinen harmlos wirkenden Fragen verbarg sich meistens eine bösartige Intrige.
»Das wäre mir sehr lieb, dann könnte ich von hier aus die Ermittlungskommission ein wenig unterstützen«, sagte er dennoch ehrlich.
Zu seiner Überraschung nickte der Dienststellenleiter bloß kurz.
»Gut, dann werden wir das so machen. Sie müssten natürlich dennoch die regulären Arbeitszeiten ordnungsgemäß wahrnehmen.«
Zbigniew nickte ein weiteres Mal zur Bestätigung.
»Ich wünsche Ihnen alles Gute«, sagte der Dienststellenleiter und ging aus dem Zimmer. Fast war Zbigniew dankbar, dass er ihn nicht auch noch in den Arm nahm.
Sie waren alle nett zu ihm. Sie nahmen ihn nicht mehr ernst, aber sie waren alle nett.
Silvia Pütz stellte Zbigniew nun den Kaffee auf den Tisch.
»Das war ja einfach«, sagte er.
»Lachmann hat sich für dich eingesetzt«, flötete Silvia mit einem Grinsen. »Kann ich dir hier bei den Akten irgendwie zur Hand gehen?«
»Nein, ich befürchte, ich muss sie selbst einmal von vorn bis hinten durcharbeiten.«
Silvia lächelte, nickte und ließ ihn allein.
Zbigniew setzte sich auf seinen Stuhl, schlug die erste Akte auf.
Französisch.
Es dauerte nicht lange, da war er absorbiert von den Akten, die scheinbar harmlos auf seinem Tisch lagen, aber doch Ungeheuerlichkeiten in sich bargen.
Der Fall Christina Wetzell hatte das Zeug zu einem der Fälle, die als große Mysterien in die Kriminalgeschichte eingingen. Dass dies nicht passiert war, lag vermutlich vor allem daran, dass er untergegangen war. Untergegangen in einer Zeit anderer Probleme, in einer Zeit, in der Deutschland gar nicht existierte. In den Akten fanden sich noch französische und englische Vernehmungsprotokolle, die die Besatzungsmächte dem zu jener Zeit noch nicht voll existenten deutschen Polizeiapparat überlassen hatten.
Zbigniew fragte sich, wie der Umzug der Wetzells eigentlich stattgefunden hatte. War es damals leicht möglich, zwischen den Besatzungszonen zu wechseln? Andernach gehörte den Protokollen nach eindeutig zur französischen Besatzungszone, wohingegen Köln britisch gewesen war. Und warum waren die Amerikaner überall?
Bizone, Trizone. Teile von Deutschland waren schon wieder miteinander vereinigt worden. Zbigniew erinnerte sich an Briefmarken aus jener Zeit. Wenn alles vorbei war, würde er mal ein Buch über deutsche Geschichte lesen.
Wenn.
Am Morgen des 2. Juni 1948 war ein Hausierer im Viertel der Wetzells spazieren gegangen und hatte entdeckt, dass die Tür ihres Hauses offen stand. Er hatte das Haus betreten, war bis ins Wohnzimmer vorgedrungen in der Hoffnung, wertvolle Gegenstände zu finden. Stattdessen hatte er ein Blutbad entdeckt: Vater und Mutter Wetzell lagen dort, ausgestreckt um eine Couch herum. Der Hausierer rannte aus dem Haus, schreiend durch das Viertel, sodass die Bewohner die Polizei alarmierten. Diese nahm den Hausierer fest, betrat auf dessen Erzählung hin das Haus. Entdeckte die Leichen. Doch von der fast fünfjährigen Christina Wetzell keine Spur.
Der Hausierer, zunächst selbst im Fokus der Ermittlungen, wurde nach einiger Zeit freigelassen. Die Polizei befragte die gesamte Nachbarschaft, diverse mögliche Motive wurden diskutiert, doch am Ende stand die Ermittlung ohne Ergebnis da. Der Mörder wurde nie gefunden, Christina Wetzell blieb spurlos verschwunden.
War sie selbst der Grund dafür, dass ihre Eltern sterben mussten? Auch eine Entführung aus sexuell motiviertem Grund wurde von den damaligen Ermittlern nicht
Weitere Kostenlose Bücher