Die tote Schwester - Kriminalroman
befunden hatte. Das ist es, was Zbigniew sich erhofft hat.
Zbigniew wird nicht schießen können.
Sein Blick liegt auf Toms Waffe, mit deren Mündung sein Widersacher auf den Stollengang zielt, dorthin, wo er Zbigniew erwartet, Zbigniew, der diesen Schuh geworfen haben könnte.
Er wird nicht schießen …
Der Schuss fällt schon in diesem Moment, abgefeuert durch Zbigniews Waffe, ein präziser Treffer in Toms rechte Hand hinein. Der Schmerz, den Tom empfindet, muss so groß sein wie sein Schrei, den er in die Gänge wirft, während seine Waffe wie in Zeitlupe mit einem kleinen Nachhall zum großen Pistolenknall auf den Boden fällt.
Nur den Bruchteil einer Sekunde dauert es, dann ist Delia hinter Tom. Zbigniews Ohren dröhnen in dreifacher Verstärkung, doch er kann es nicht verhindern, er muss und wird ein weiteres Mal schießen, er wird schießen auf Delia, die sich in ihrem Entsetzen zum Bruder beugt, dabei aber nicht aus den Augen verliert, dass seine Waffe nun in Griffnähe auf dem Boden liegt, sich fast schon danach bückt. Zbigniew schießt Delia in den Unterschenkel, sodass sie zusammensinkt, sich in ein Knäuel mit Tom Streithoff verwebend.
Zbigniew wird nicht lange zögern, er wird nach vorn hechten, sich der Waffe von Tom bemächtigen, dann wieder zurückrennen an der schockierten Mareike vorbei, einer Mareike, die nichts mehr mit der Mareike von zuvor zu tun hat, wie ein Häuflein Elend auf dem Betonboden liegend, vermutlich schmerzen auch ihr die Ohren wie Zbigniew, der nun gar nichts mehr hört, nur noch einen andauernden hallenden Ton, einen dauerhaften Knall im Ohr, die Perpetuierung von Pistolenknall mit reichhaltigen Obertönen, Obertönen, die nicht nur hörbar sind, sondern auch schmerzhaft. Zbigniew wird mit ihrem Schlüssel zur Tür des anderen Stollens vorstoßen, den Riegel hat er bereits zur Seite gelegt, wie aus einer anderen Welt hört er nun doch noch das Wimmern von Tom und Delia, nein, er kann sich nicht darum kümmern, er muss nun diese Tür aufschließen, er wird nun diese Tür aufschließen, er wird diese Tür aufstoßen, er wird hinter diese Tür gehen in einen weiteren Stollen hinein, doch dieser Stollen sieht anders aus, voll betoniert, ein großer, viereckiger Raum, und es wird ihn nicht überraschen, nein, es wird ihn nicht überraschen, dass hier ein Mädchen gefesselt liegt, nein, kein Mädchen, sondern eine junge Frau, mit einer Augenbinde liegt sie da, sie liegt da gefesselt, und er wird auf sie zugehen, er wird ihr die Augenbinde abnehmen ebenso wie die Fesseln, er wird sie in den Arm nehmen und ihren Namen aussprechen, einmal, zweimal, immer wieder, bis sie ihn schließlich mit ihren trüben Augen ansieht und erkennt, vielleicht erkennt, vielleicht auch nicht, seine Umarmung zulässt, ihn aber nicht anlächelt, nein, sie wird ihn nicht anlächeln, dankbar, dass er sie befreit hat, sie wird nur aus ihren noch nicht an das helle Licht gewöhnten Augen herausschauen, begreifend, was soeben passiert sein wird, nämlich ihre Befreiung, das Ende ihrer Tage in diesem Raum, wo sie nur Kontakt gehabt hat zu dieser einen Frau, Mareike, der Frau, die sie am Flughafen in das Auto gelockt hat, die falsche, dunkelhaarige Mareike, die sie ebenso gesehen hat wie Jerry, den ubiquitären Jerry, nicht aber Tom und Delia, die nun im Gang vor Schmerz auf dem Boden wimmern, sie wird sie sehen, sie wird es in dem Moment sehen, als Zbigniew sie an seine Hüfte gepresst hinausträgt, vorbei an Mareike, die nur einen blutigen Schuh an ihren Füßen trägt, vorbei an Tom und Delia, die in Schmerz gekrümmt und blutend an der unterirdischen Wegkreuzung liegen, neben einem umgedrehten grauen Sportschuh, und Lena wird dies alles nur in einer Art Halbbewusstsein mitbekommen, einer Trance, in der man nicht weiß, ob es der Wirklichkeit entspricht oder nicht, all das, was man sieht, und während Zbigniew mit ihr im Arm weitertorkeln wird in Richtung Licht, dorthin, wo der Eingang des Stollensystems ist, die metallene Tür, die nun offen steht, ebenso wie das Metallgitter davor, wird er begreifen, dass dort Menschen hereinstürmen, viele Menschen in blauer Kleidung, Waffen auf ihn richtend, es werden dort Menschen mit Waffen und Uniformen sein, die laut etwas auf Niederländisch schreien, das er nicht versteht, während er fast zusammenbricht unter Lenas Fliegengewicht, und es wird in diesem Moment sein, dass er irgendwo im Hintergrund, hinter der Linie der blauen Männer, ein bekanntes Gesicht sieht,
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