Die tote Schwester - Kriminalroman
er selbst hätte es nicht übers Herz gebracht und sie an sich genommen – aus rein historisch-persönlichem Wert, wie er betonte.
»Warum wurde das sichergestellt?«, fragte Zbigniew.
»Es sind einige Fotos dabei, auf denen Streithoff und Weissberg mit Gemälden im Hintergrund zu sehen sind. Die werden an die Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste in Magdeburg übermittelt, von dort wurde ein riesiges Interesse an unserem Fall angemeldet.«
Zbigniew nickte. Die Koordinierungsstelle Magdeburg hatte auch schon bei ihm angerufen. Nachdem im Sprinter von Tom Streithoff auch die Akten von Gideon Weissberg aus der Bank gefunden worden waren, war klar, dass hier eines der größten Kunstverbrechen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vor der Aufklärung stand. In den Akten von Gideon Weissberg befanden sich unzählige Original-Kaufdokumente von jüdischen Gemäldebesitzern aus den dreißiger Jahren. Offenbar hatte Gideon Weissberg die Akten als Rückversicherung bei der Bank eingelagert, auf ewige Zeiten, damit sie eines Tages bei ungeklärten Besitzverhältnissen zur Verfügung stehen würden. Für eine Zeit nach dem Dritten Reich, die er selbst nicht mehr erleben durfte.
In den Akten befand sich auch eine Zeichnung, wo die Gemälde gelagert worden waren – in einem bombensicheren Tiefkeller unter einem Wohnhaus in Sülz, der wohl Ende der dreißiger Jahre vollständig zugemauert worden war. In den fünfziger Jahren wurde der Tiefkeller, der von sämtlichen Bauplänen verschwunden war, überraschenderweise wiederentdeckt. Leer. Niemand hatte sich dabei etwas gedacht. Fortan wurde der Keller wieder zur Lagerung von Kohlen verwendet.
Zbigniew fand es interessant, dass Tom und Delia die Akten nicht sofort vernichtet hatten. Vermutlich war die Neugierde auf das, was ihr Vater damals in der Hand gehabt hatte, größer als alles andere gewesen.
Wohin sie mit dem Sprinter fahren wollten, das wurde indes nicht klar. Delia und Tom gaben keine Antwort auf diese Frage. Flugtickets trugen sie nicht bei sich. Zbigniew hatte die dunkle Ahnung, dass die Geschwister noch ein weiteres Versteck in Europa hatten, das mit dem Wagen zu erreichen war.
Der Bilderraub spielte nach wenigen Tagen eine wesentlich größere Rolle in den Medien als die Entführung von Lena. Eine große Zeitung aus München hatte den Namen »Weissberg-Liste« erfunden, und unter diesem Namen ging der Bilderkatalog nun in allen Medien durch die ganze Welt. Glücklicherweise stand bei diesem Fall die Person Zbigniew Meier nicht im Mittelpunkt des Interesses.
Nur ein kleiner Rest an Kunstwerken aus der Weissberg-Liste war wieder aufgetaucht. Vier Gemälde in Valkenburg aan de Geul, weitere einundzwanzig in einem von der South River Gallery angemieteten Lagerhaus im New Yorker Stadtteil Williamsburg. Die Gutachten der Kunstexperten standen noch aus; klar war aber bereits, dass hier Geschichte geschrieben wurde.
Ein Spezialist hatte in einer seriösen Tageszeitung vorgerechnet, dass die Bilder der Weissberg-Liste heute insgesamt über zwei Milliarden Dollar wert waren.
Und nun diese Schatulle, harmlos, mit kleinen Fotos, im unsinnlichen Fach der Asservatenkammer zu Kalk. Zeynel suchte sie durch, nachdem er sich Handschuhe des Erkennungsdienstes angezogen hatte. Zbigniew erkannte Gideon Weissberg, und auf einem der Bilder war sogar Lion Seeliger zu erkennen. Paul Streithoff stand daneben, ein schneidig wirkender kleiner Mann mit blonden Haaren, und hinter ihnen ein diffuses Gemälde. Alle sahen wie Freunde aus.
Sie waren Freunde. Streithoff hatte versucht, die Weissbergs zu retten. In die Versuchung, seinen Freund zu betrügen, war er erst nach dem Krieg gekommen. Als ihm bewusst wurde, dass keiner der Mitwisser mehr lebte.
Delia und Tom hatten die Aussage zu diesem Thema verweigert. Aber die Befragungen waren noch lange nicht zu Ende; der Ermittlungskommission war klar, dass der Gemäldekomplex und die Weissberg-Liste die Ursache für Lenas Entführung waren. Paul Streithoff musste von der Liste gewusst haben, aber er hatte niemals Zugang zu ihr. Was genau er Delia oder Tom erzählt hatte, das erführen die Ermittler nur, wenn die beiden jemals offen sprechen würden. Wonach es zurzeit nicht aussah, zumal auch bei einer Aussage dieser Art keine Strafmilderung für das Delikt des schweren Menschenraubs zu erwarten war. Vielleicht, dachte Zbigniew, könnte man mit einer Auslieferung an die amerikanische Justiz drohen. Die bestimmt für Täter, die einen
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