Die tote Schwester - Kriminalroman
der Theke strömte der Geruch von frischem Hackfleisch; man hörte das Brutzeln von Bratpfannen.
Samuel selbst hatte diesen Ort ausgewählt, ein Gebäude, das wie ein silberner Container aussah. Zbigniew fühlte sich wie in einem Gemälde von Edward Hopper. Eine mollige Bedienung brachte seinen Burger und einen Salat für Lena. Ihre Eltern tranken bloß Kaffee.
Und dann kam er.
Er war nicht allein. Neben Samuel Weissberg betrat ein schneidig aussehender, sonnengebräunter, vielleicht fünfzig Jahre alter Mann das kleine Restaurant.
Samuel ging direkt auf sie zu, mit einem Lächeln im Gesicht. Der Mann folgte ihm, hielt sich zunächst im Hintergrund. Zbigniew und die Beinkes standen auf.
Samuel Weissberg nahm Lena in den Arm. Sie blieben eine Zeit lang so stehen, die Welt um sie herum existierte nicht.
Der andere Mann trat aus dem Hintergrund und reichte Zbigniew die Hand.
»Jack Rosenfeldt«, sagte er, »nice to meet you.«
Lena und Samuel ließen voneinander ab, alle schüttelten sich die Hände. Sie setzten sich wieder. Auch Samuel und Jack Rosenfeldt bestellten Burger.
»Ich habe mit Ihrer Schwester gesprochen«, sagte Zbigniew, »es ist alles so weit arrangiert. Sie treffen sie morgen Mittag um zwölf Uhr.«
Samuel sah ihn mit fast kindlichen, ungläubigen Augen an.
»Als Sie mich angerufen haben, dachte ich, Sie meinten es nicht ernst. Ich kann es nicht glauben.«
»Ich kann es auch alles nicht glauben«, sagte Zbigniew und fragte sich, was genau alles er nicht glauben konnte. »Geht es Ihnen denn wieder besser?«
Samuel hatte nach der Entführung über starke Kopf- und Gliederschmerzen geklagt. Immerhin schien er psychisch nicht angeschlagen zu sein.
»Von Tag zu Tag«, bestätigte Samuel. »Und Ihnen?«, wandte er sich an Lena.
Sie nickte bloß.
»Körperlich fehlt ihr nichts. Und die Psychologen meinen, sie habe es den Umständen entsprechend gut überstanden«, antwortete Horst Beinke an ihrer statt. Er blickte seine Tochter an. »Es war ihr ein ganz großes Anliegen, Sie wiederzusehen und auch … dabei zu sein.«
Samuel lächelte kurz Lena an, dann war das Lächeln weggewischt.
»Ich frage mich, wie ich mich mein ganzes Leben lang in Menschen so täuschen konnte«, sagte er.
»Sie sind alle gemeinsam mit der Täuschung großgeworden«, antwortete Zbigniew.
Samuel und Jack bekamen ihr Essen. Die Burger schmeckten saftig und fleischig, waren nicht zu salzig.
Sie aßen, unterhielten sich über Themen, die nichts mit Samuel, Delia oder Paul zu tun hatten. Lena bestellte sich einen Donut zum Dessert, während Zbigniew bloß einen Kaffee orderte.
Als auch Samuel und Jack mit dem Essen fertig waren, begann Zbigniew zu erzählen. Bislang hatte der Ex-Cop nur Bruchstücke der Geschichte erfahren, nun holte Zbigniew weit aus. Er erzählte von Gideon Weissberg und Lion Seeliger. Er erzählte von der weisen Voraussicht der Männer, die aber in letzter Konsequenz dann doch nicht den Schritt taten, der eigentlich vonnöten gewesen wäre – aus Deutschland zu fliehen.
Die Liebe zum Land hatte es verhindert.
Zbigniew erzählte Samuel von Gideon und Anna, ihrer Liebe, ihrer Sorge um die Kinder. Er erzählte von Gideon und Paul Streithoff, der guten alten Freundschaft der Männer, die einander vertrauen konnten. Er erzählte von Paul Streithoffs Bilderdiebstahl nach dem Weltkrieg, seinem ersten Sündenfall, und dem Geheimnis, das seine Kinder mit der South River Gallery übernommen hatten.
Zbigniew hatte sich vorgenommen, beim Treffen mit Samuel Weissberg ihn danach zu fragen, wie er damals seinen Namen Heinrich abgelegt hatte. Nun befand er, dass die Situation nicht passend war. Er ließ diesen Teil der Vergangenheit ruhen.
Samuel begann, von seinen Erinnerungen an Paul zu erzählen. Dem hilfreichen Paul, der ihn auf der Deutschlandreise begleitet hatte. Zbigniew musste sich zusammennehmen; er würde Samuel erst zu einem späteren Zeitpunkt erzählen, dass die Suche nach Eva in den Jahren 1960/61 eine reine Farce gewesen war – der Versuch von Paul, Samuel von den richtigen Spuren seiner Schwester abzulenken.
Der erfolgreiche Versuch.
Auch von Andernach würde er ihm jetzt noch nicht erzählen. Samuel würde es im Lauf der Zeit erfahren. Oder er würde es gar nicht erfahren.
Doch, er würde es erfahren müssen, um alles zu begreifen.
Aber nicht heute.
Lena stocherte etwas autistisch in ihrem Donut herum.
»Wo werde ich sie morgen treffen?«, fragte Samuel Weissberg schließlich.
»Wir
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