Die tote Schwester - Kriminalroman
sich dagegen und setzte sich neben den Vater seiner Freundin.
»Guten Abend«, sagte er. Horst Beinke sah ihn kurz an, nickte.
Zbigniews Blick fiel auf sein Getränk. Ein deutsches Bier. Warum um alles in der Welt trank er hier ein Bier, das er auch in Deutschland täglich trinken konnte? Für den fünffachen Preis.
»Horst«, drehte Lenas Vater sich plötzlich zu ihm herüber und reichte ihm die Hand. Zbigniew nahm sie überrumpelt.
»Zbigniew.«
Horst nickte.
»Du heißt wirklich so, oder?«
Es war keine Konfrontation, bloß eine höfliche Frage. Zbigniew bestätigte mit einem kurzen Kopfnicken. Der Bartender kam nun auf ihn zu, fragte sehr freundlich nach seiner Getränkewahl.
Er bestellte dieselbe Biersorte wie sein neuer Freund. Er wusste nicht warum, hatte aber das Gefühl, dass es richtig war.
»Alles in Ordnung?«, fragte Horst Beinke.
Zbigniew hatte das Gefühl, diese Frage in den letzten Wochen zu oft gehört zu haben.
Er wiegte den Kopf hin und her.
»Nein. Nein, es ist nicht alles in Ordnung. Wie sollte es in Ordnung sein«, stellte er fest.
Lenas Vater nickte.
»Haben Sie … hast du Erfahrung mit solchen Fällen? Wie lange es dauern kann, bis sie sich wieder … «
Er verstummte.
»Nein, habe ich nicht. Aber die Entführung ist jetzt Teil ihres Lebens, und das wird sie nie mehr abstreifen können. Manche verarbeiten das besser, manche nicht so gut.«
Das Bier kam, Zbigniew nahm einen Schluck. Da Horst nicht redete, hatte er das Gefühl, weitersprechen zu müssen.
Sie hatten nicht angestoßen. Sie dachten beide an Lena. Es gab keinen Grund, auf irgendetwas anzustoßen.
»Eigentlich würde ich vermuten, dass Lena zu den Menschen gehört, die so etwas gut verarbeiten. Aber es wird wohl etwas Zeit brauchen.«
Horst nickte, schaute auf die Flaschenreihe hinter dem Tresen.
»Sie lacht nicht mehr«, sagte er dann.
»Sie lacht nicht mehr. Sie weint nicht mehr. Und sie ist nicht mehr … «
Er wollte »unverblümt« sagen.
»Frech.«
Horst lächelte melancholisch.
»Frech war sie früher immer.«
»Sehr frech sogar«, lächelte nun auch Zbigniew.
Dann saßen sie eine Zeit lang schweigend nebeneinander. Vielleicht dachte jeder über seine eigenen Erinnerungen mit Lena nach. Schließlich hatte Zbigniew sein Bier leer getrunken.
»Morgen ist ein großer Tag für euch«, sagte Horst, stand auf und leerte seinen Rest in einem Zug.
»Ja.«
»Ich hoffe, dass alles so wird, wie ihr es euch wünscht.«
»Danke. Das hoffe ich auch.«
Zbigniew erhob sich. Dann nickten sich die Männer zu und gingen zurück auf ihre Zimmer.
Am nächsten Morgen zeigte sich der Frühling in New York von seiner schönsten Seite. Als Zbigniew und Lena das Hotel verließen, um in einem Deli an der Ecke zur Bowery zu frühstücken – Lenas Eltern bevorzugten den seltsam süßen Klebekuchen und Kaffee in »Free-Refill«-Qualität im Hotel –, glaubte Zbigniew, die Vögel im Verkehrslärm herauszuhören. Der Himmel war strahlend blau, wie er es nur am Meer sein konnte. Die Luft war von beseelender Wärme.
New York City wusste, wie es diesen Tag für Samuel und Eva Weissberg gestalten musste, nach der langen Prüfung in ihren Leben. Den Rest hatte Zbigniew arrangiert.
Lena war beim Frühstück so schweigsam wie am Vorabend. Immerhin hatte sie einen regen Appetit; sie holte sich mehrmals Nachschub von den verschiedenen Buffets.
Auf der Bowery, vor den riesengroßen Fenstern des Deli, ging eine winzige ältere Dame mit einem Rudel kleiner Hunde entlang. Sie trug einen ausladenden Hut und ein wirr geblümtes Kleid.
Zbigniew musste schmunzeln, so seltsam war der Anblick.
»Schau mal«, sagte er zu Lena.
Lena sah von ihren Croissants hoch, der Dame hinterher. Sie nickte, es war ein nüchternes Zur-Kenntnis-Nehmen. Dann widmete sie sich wieder dem Essen.
Zbigniew betrachtete sie, wie sie so dasaß. Er fragte sich, was er tun könnte, um Lena wieder zum Lachen zu bringen, auf dem Weg zurück zur alten Lena.
Aber ihm fiel nichts ein.
Am Vormittag holte Jack Rosenfeldt Lena ab; Zbigniew und seine Freundin trennten sich. Lena ging mit Jack zu Samuel, während Zbigniew zu dessen Schwester fuhr.
Die alte Dame zitterte, als er sie wie verabredet in einem Café traf, diesmal auf der Upper East Side.
»Haben Sie darüber nachgedacht, worüber wir gesprochen haben?«, fragte Zbigniew sie.
»Ja. Ich werde mich all dem stellen. Ich werde mich mit den Organisationen in Verbindung setzen und wir werden jedem einzelnen
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