Die tote Schwester - Kriminalroman
parkte den Wagen und stieg aus.
Er atmete die Luft ein. Sie roch frisch und feucht, eine Luft, die er in Köln noch niemals gerochen hatte.
Dennoch hatte der Ort etwas Bedrohliches. Hinter einem gusseisernen Zaun, der ihn um zwei Köpfe überragte, lag sein Ziel – ein ausladendes, viktorianisch aussehendes Gebäude mit mehreren Türmen und verhuschten Fenstern. Das Kinderheim am Rigi leuchtete ein wenig unwirklich im Abendlicht, über ihm ragte der riesige Berg hervor, wie ein drohendes Mahnmal. Zbigniew wandte sich um, doch er konnte den See trotz des recht steilen Hangs kaum hinter den Bäumen erkennen.
Er ging zur Mitte des Zauns, von wo aus ein Weg zum Hauptportal des Gebäudes führte. Das Portal, von dem er bereits einen Teil auf dem Foto gesehen hatte. Doch bei näherer Betrachtung konnte man erkennen, dass das Waisenhaus im Verfall begriffen war. Einige der Fenster waren blind, der Putz bröckelte an manchen Stellen ab. Der Garten vor dem Haus war mit Unkraut überwuchert.
Zbigniew spürte wachsende Enttäuschung in sich aufsteigen. Auch wenn Edwin so etwas in der Art schon vorhergesehen hatte.
Er kam am Tor an. Es war verschlossen, natürlich.
Ein Schild hing am Gitter – »Verkauft«.
Wer um alles in der Welt würde ein derartiges Gemäuer kaufen?
Zbigniew rüttelte unsinnigerweise an der Klinke, stieß einen Fluch aus. Er war am Ziel angelangt. An dem Ort, von dem er vermuten durfte, dass Paul Streithoff hier hingekommen war. Um das Mädchen abzuliefern, um sie sicher im Ausland unterzubringen, wo niemand in der Nachkriegszeit auf die Idee kommen würde, dies hier könnte das Mädchen sein, das der Schlächter von Andernach am Leben gelassen hatte.
Um Eva Weissberg in ihre eigene Zukunft zu schicken, nachdem er ihre Ersatzeltern getötet hatte.
Wie hatte er es mit ihr über die Grenze geschafft?
Zbigniew stand einen Moment lang am Gittertor, wusste nicht, was er tun sollte.
Schließlich ging er die Sackgasse den Berg hinab. Unterhalb des Waldes, der nun fast eine unheimliche Anmutung hatte, lagen einige Wohnhäuser. Ein Weiler über den Dächern von Weggis.
Es war kurz nach sieben Uhr.
Fußarbeit.
Fruchtlose Fußarbeit, denn in den ersten drei Häusern wusste niemand etwas von den beiden Erzieherinnen. Junge Paare hatten die Häuser übernommen, sie wussten kaum, dass oben auf dem Berg mal ein Kinderheim gewesen war.
Beim vierten Haus dachte Zbigniew, er könnte Erfolg haben. Ein älterer Herr öffnete ihm. »Frau Bonny, ja, natürlich!«, rief er aus, als Zbigniew seine Namen nannte. Ein Leuchten war in seinen Augen zu sehen, sodass man sich fragen konnte, ob Frau Bonny und er damals eine Liebelei gehabt hatten.
»Wissen Sie, wo sie jetzt wohnt?«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. Er hatte die damals junge Erzieherin aus den Augen verloren.
Frustriert ging Zbigniew weiter den Berg hinab.
Eine alte Dame mit Hund kam ihm entgegen. Sie ließ ihr Tier gerade an einen der schönen, alten, gusseisernen Laternenpfähle pinkeln, was Zbigniew zutiefst unsympathisch fand.
»Entschuldigen Sie«, sprach er sie in freundlichem Ton an.
»Ja?«
Zbigniew stellte seine Frage.
Die alte Dame lächelte verschmitzt.
»Ja, natürlich. Janine und Madame Kar, sie hat den Schlafsaal beaufsichtigt.«
Zbigniew spürte ein Kribbeln in seinen Händen.
Janine.
Sie kannte einen Vornamen.
»Haben Sie dort auch gearbeitet?«
Die Dame lächelte. Ihr Hund zog an ihr, wollte die Straße weiter hochgehen. Der Fuß der Laterne glänzte.
»Ja, natürlich. Fast vierzig Jahre lang. Es ist ein Jammer, dass sie auch da jetzt ein Luxushotel draus machen wollen.«
Zbigniew nickte, tat so, als ob er darüber Bescheid wusste.
»Und der ganze Verkehr, der hier rauf- und runterfahren wird«, jammerte die Dame.
Zbigniew holte nervös die Kopien der Fotos von Eva Weissberg hervor.
»Kennen Sie zufällig dieses Mädchen hier? Sie ist vielleicht irgendwann in den fünfziger Jahren im Kinderheim gewesen.«
Die alte Dame nahm ihm die Fotos aus der Hand, hielt sie in der Rechten, während der Hund an ihrer Linken zog. Ihre Finger zitterten ein wenig; Zbigniew hatte Angst, dass sie die Fotos fallen lassen könnte. Sie schob sie zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger hin und her.
Zbigniew half ihr, legte das letzte Foto nach oben.
Die alte Dame sah plötzlich zu ihm hoch, in sein Gesicht. Sie hatte einen verstörten Gesichtsausdruck, hielt ihm die Fotos hin, er sollte sie zurücknehmen.
»Kennen Sie das Mädchen?«,
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