Die tote Schwester - Kriminalroman
Das ist ernster als alles, was du dir bislang vorstellen konntest.«
Schweigen. Zbigniew befürchtete, dass Edina in Tränen ausbrechen würde, aber es war nicht der Fall. Er hörte bloß ihren etwas gepressten, regelmäßigen Atem durch die Leitung. Dann holte sie abrupt Luft.
»Aber wieso … «
»Sag mir bitte einfach, worüber ihr geredet habt am Telefon. Wir müssen wissen, ob es wichtig ist oder nicht.«
Schweigen. Zbigniew hatte das Gefühl, dass er am Telefon nichts mehr aus ihr herausholen würde.
»Kannst du hierher kommen?«, fragte sie in diesem Moment auch schon zaghaft. »Ich … ich versteh das alles nicht.«
Sie würde weinen. Wenn nicht jetzt, dann in ein paar Minuten.
»Wo wohnst du?«
Eine überflüssige Frage, es stand auf dem Computermonitor vor ihm.
»Graeffstraße 24.«
Irgendwo am Anfang von Ehrenfeld.
Zbigniew blickte Zeynel an, der nickte ihm aufmunternd zu.
»Edina, ich bin in zwanzig Minuten bei dir.«
Er legte auf.
Lena und Edina hatten ein Geheimnis.
Zbigniew sah Samuel Weissberg vor seinem geistigen Auge, in der Ferne, jenseits der Scheibe, im alten Lagerhaus im Gespräch mit anderen Menschen, er selbst zwischen den drei Raucherinnen stehend, vor der Tür zur Vernissage.
Der Moment, als er Lena in New York allein gelassen hatte.
Der Moment, als sie ihn allein gelassen hatte.
5
HastigverließerdasPolizeipräsidium.DazurzeitkeinEinsatzwagenfreiwar,hatteZeynelihmvorgeschlagen,sicheinTaxizunehmen.Zbigniewspürte,dassseinehemaligerKollegefrohwar,ihnaus dem Raum der Ermittlungskommission herauszubekommen.
Als er aus dem riesigen Glasfoyer des Präsidiums auf den kleinen Vorplatz im Niemandsland trat, stieß er direkt vor der Eingangstür auf Lenas Vater, der dort eine Zigarette rauchte. Zbigniew war im fünften Stock absichtlich einen umständlichen Weg zum Fahrstuhl gegangen, um den Eltern nicht zu begegnen.
Sein Taxi hielt an der Straße.
Der Blick von Lenas Vater durchbohrte ihn. Zbigniew blieb stehen, ohne es zu wollen, seine Beine blockierten. Einen Augenblick lang sahen sich die beiden Männer an wie zwei Feinde, die sich nach langer Zeit wieder begegneten.
Zbigniew war wie gelähmt, er wusste nicht, wie er reagieren sollte.
Warum rauchte Lenas Vater?
Passte es zu Lena, der Rebellin, das Gleiche zu tun wie ihr Vater?
»Es gibt leider keine Neuigkeiten«, sagte Zbigniew, weil er das Gefühl hatte, etwas sagen zu müssen.
Lenas Vater räusperte sich und begann, mit einer durchdringenden Stimme zu sprechen. Er wirkte nicht cholerisch, sondern ruhig, nahezu bedächtig.
»Wenn meiner Tochter etwas passiert, dann werde ich Sie hinter Gitter bringen«, hörte Zbigniew ihn sagen.
Er würde Lenas Vater nun ohnehin nicht von etwas anderem überzeugen können. Er würde im Moment nicht verhindern können, dass Lenas Vater ihn hasste.
»Haben Sie eine Ahnung, wer ein Interesse hat, Lena zu entführen?«, fragte Zbigniew stattdessen.
Der Vater sah ihn verwundert an.
»Ich meine, hat sie in der letzten Zeit in der Schule irgendwelche Probleme gehabt, irgendeinen Ärger mit Freunden? Gibt es Zwistigkeiten mit Verwandten, Geschäftspartnern von Ihnen? Etwas, das vielleicht auf den ersten Blick nicht mit der Entführung in Zusammenhang steht, das aber beim zweiten Hinsehen eine Rolle spielen könnte? Denken Sie bitte nach.«
Kurz schien es, als ob der Vater wirklich nachdachte. Doch dann brach es brüsk aus ihm hervor:
»Das hat mich die Polizei alles schon gefragt. Ich habe eine halbe Stunde lang mit diesem Türken gesprochen. Nein, ich habe keine Ahnung.«
Zbigniew sah ihn an, überrascht.
»Außerdem habe ich keine Geschäftspartner«, fuhr der Vater fort, »ich bin Lehrer. Das müssten Sie doch wissen.«
Zbigniew nickte langsam, das wusste er natürlich.
Diesem Türken.
»Der türkische Kollege heißt Zeynel Aspendos und ist hier Polizeikommissar. Er ist einer der besten jungen Beamten in Köln.«
Ein wenig wunderte er sich selbst, dass er derartig Partei für ihn ergriff. Andererseits hatte es ihn schaudern lassen, dass ein deutscher Studiendirektor das Wort »Türke« auf diese Art und Weise in den Mund genommen hatte.
»Ja, das will ich mal hoffen« war alles, was Lenas Vater erwiderte.
»Ihnen ist also inzwischen nichts Neues eingefallen?«
»Nein. Aber es liegt doch auf der Hand, dass man sich an Ihnen rächen will.«
Der Vater warf seine Zigarette auf den Boden und trat sie aus. Zbigniew blickte seinen Schuh an, wie er sich langsam auf der
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