Die tote Stadt: Frankenstein 5: Roman (German Edition)
Wildnis.
Sully sah in den Rückspiegel und betrachtete Grace Ahern, die mit dem tapferen jungen Travis auf dem Rücksitz saß.
»Was ist das denn?«, fragte Bryce.
Als Sully den Schriftsteller ansah, glaubte er, die Frage müsse seiner recht unschuldigen Faszination von Grace gelten und eine Kampfansage sein. Aber Bryce hatte sich vorgebeugt und sah mit zusammengekniffenen Augen an den Scheibenwischern vorbei durch das Schneetreiben.
Vor ihnen standen ein Mann und eine Frau auf der Straße, nebeneinander, aber mit einem Abstand von knapp zwei Metern zwischeneinander, und versperrten beide Fahrspuren. Sie waren nicht ordentlich angezogen für dieses Wetter – sie in einem schlichten schwarzen Cocktailkleid und er in einem Smoking. Die beiden besaßen eine theatralische Ausstrahlung, als sei die Straße eine Bühne und sie würden jeden Moment eine erstaunliche Vorstellung geben, er als Zauberkünstler und sie als seine Assistentin, die gleich in einem Schwarm aufsteigender Tauben spurlos verschwinden würde. Als Sully keine sechs Meter vor ihnen bremste, sah er, dass sie sogar in dem harten Licht der Scheinwerfer bemerkenswert gut aussahen, strah lender als Filmstars.
Auf dem Rücksitz sagte Grace: »Noch mehr von denen. Sie sind wie die beiden in der Küche der Grundschule, die gesagt haben: ›Ich bin euer Baumeister‹, und dann alle vernichtet und die Kokons gesponnen haben.«
»Wir wollen diesen Kampf nicht«, sagte Bryce.
Sully legte den Rückwärtsgang ein und warf einen prüfenden Blick in den Rückspiegel, und der Teufel sollte ihn holen, wenn nicht ein ähnliches Paar hinter ihnen auf der Straße stand. Vier Baumeister, einer für jeden in dem Humvee.
Wüst und leer. Wüst und leer. Finsternis auf dem Angesicht der Tiefe. Dergestalt war es; und dergestalt soll es wieder sein.
Der Geist schwebte über dem Angesicht der Tiefe, und es ward Licht. Die Sonne reagiert nicht auf die Anordnungen Victors des Unbefleckten, und daher wird Licht in der Welt bleiben. Aber nach dem Ende der Gemeinschaft wird es keine Augen mehr geben, um es zu sehen, keine Haut, um die Wärme zu fühlen.
Durch die terrakottafarbenen Kapseln und die zitronengelbe Tablette zu neuer geistiger Klarheit und Kraft geführt, wandelt Victor umher, um zu denken, und er denkt die Welt in ihren Tod. Als der endgültige Visionär, der er ist, späht er in eine Zeit voraus, in der nichts fliegt und nichts läuft und nichts kriecht und nichts krabbelt und nichts schwimmt, in eine Zeit, in der wenig wächst und das We nige, was noch wächst, nicht gedeiht, in eine Zeit leeren Himmels, öden Landes und toter Ozeane.
In dieser Hochstimmung erreicht er den Raum, in dem er ein überaus interessantes Treffen mit dem Geldgeber gehabt hätte, wenn dieser Narr einen kleinen Rückschlag nicht irrtümlich für eine Katastrophe gehalten hätte. Hier, mit den Leibwächtern in einem anderen Raum, wären sie einander begegnet, nur sie beide – für den Anfang –, um darüber zu diskutieren, was in den bevorstehenden Mona ten noch an zusätzlichen Geräten, an Material und an Geld mitteln gebraucht werden würde.
Diesen Raum betritt man durch einen kleinen Vorraum zwischen zwei pneumatisch betriebenen Türen, die mit einem leisen Zischen in die Wände gleiten, erst eine, dann die andere. Der Raum ist rund. Er hat einen Durchmesser von neun Metern und eine Kuppel. Die dicken Beton wände und die Kuppel sind mit Schallschutzplatten abgedeckt, so viele Schichten wie Blätterteig, und über den Platten befinden sich ein Polster aus grauem Filz und Tausende von fünfzehn Zentimeter langen Zapfen, die mit Filz bezogen sind. In den Zeiten des Kalten Krieges wurde Paranoia für notwendig erachtet, um das Überleben zu gewährleisten; sogar in dieser tiefen, explosionssicheren Einrichtung, in der einstmals die zuverlässigsten Patrioten als Belegschaft untergebracht waren, fühlten sich die Architekten verpflichtet, eine Räumlichkeit bereitzustellen, aus der kein Wort in einen Flur oder in einen angrenzenden Raum dringen konnte, in der eine Schrotflinte abgefeuert werden konnte, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Hier drinnen klingt ein Schrei wie ein Murmeln, aber selbst Worte, die gemurmelt werden, sind so klar und deutlich zu vernehmen wie ein Schrei.
Victor erwartet, die graue Leinwand auf Rollen, die aus acht Feldern besteht, am hinteren Ende des Raumes stehen zu sehen, doch er rechnet nicht damit, schon wenige Minuten nach der vorherigen Verabreichung den
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