Die Tote vom Johannisberg
großen Städten auf die wirkliche Kunst verstehen, geraten immer mehr ins Hintertreffen.«
Zum Glück sprang der Professor darauf an. »Wahre Werte« war offenbar ein Signalwort in der Kulturszene. Was waren eigentlich »unwahre Werte«?
»Da haben Sie ganz recht, Herr Rott. Tja, die sogenannte Provinz.« Er schwieg und dachte eine Weile nach. »Wissen Sie eigentlich«, sagte er dann, »daß Wuppertal die heimliche Hauptstadt der klassischen Musik ist?«
Ich hatte keine Ahnung und guckte fragend.
»Immerhin hat sich bereits 1862 in Wuppertal, das heißt im damaligen Elberfeld, ein städtisches Orchester formiert. Die Wuppertaler waren schon immer ein kunstliebendes Völkchen, vor allem die Elberfelder.«
»Ja, ja«, sagte ich, »das macht diese Stadt ja auch vom kulturellen Standpunkt aus so interessant… Wann haben Sie eigentlich die Wuppertaler Kammerphilharmonie gegründet?«
Der Professor war sichtlich erfreut, daß endlich seine Person ins Spiel kam. »Vor zwölf Jahren, als ich an die hiesige Musikhochschule als Dozent kam. Ich wollte ein Ensemble gründen, das aus begabten Hochschulabsolventen besteht. Warten Sie, da kann ich Ihnen etwas mitgeben.«
Er griff in seine Aktentasche. »Wo habe ich es denn? Wissen Sie, ich suche ein Programmheft, das Konzert zu unserem zehnjährigen Jubiläum im Jahre 1997. Da steht alles drin. Ah, hier habe ich es.« Er legte ein DIN-A-5-großes weißes Heft auf eines der Pulte, an dem die Studenten normalerweise die Vorlesungen mitschrieben. Auf der Titelseite war ein fast formatfüllend großes Satorius-Foto zu bewundern. »Außerdem gibt es«, erklärte er weiter, »in Wuppertal viele große Chöre. Und die Musikgeschichte dieser Stadt ist natürlich hochinteressant. Zum Beispiel die Sache mit Lehár …«
Ich konnte diese Dauerwerbesendung nicht mehr hören. Aber ich beherrschte mich. Um echter zu wirken, schlug ich meinen Notizblock auf und begann, mir Notizen zu machen. Satorius tat wirklich so, als habe der Vortrag eben überhaupt nicht stattgefunden. Als würde er mir Neuigkeiten erzählen, die kein Mensch sonst wußte.
»Es geht darum, daß Franz Lehár, der bedeutende Operettenkomponist, in seinen Anfängen in Wuppertal gewirkt hat. Er war im Jahre 1888, also in seinen Lehrjahren, Geiger im Elberfelder Theaterorchester gewesen. Natürlich war das alles vor seinen großen Erfolgen, da konnte er sich auch noch eine Liebschaft mit einer Opernsängerin leisten …«
»Natürlich«, warf ich ein und schrieb mit.
»Nun hat Lehár in dieser Zeit auch schon ein wenig komponiert, und er hat für Margarete Weyer einen Walzer geschrieben, als er in Wuppertal war. Er heißt ›Wupper-Wellen‹. Kennen Sie ihn?«
»Wer war Margarete Weyer?«
»Eine junge Industriellentochter. Die Familie hatte eine Harmoniumfabrik. Sie ist mittlerweile so gut wie ausgestorben, ich habe das untersucht. Das einzige Familienmitglied, das noch lebt, ist eine Enkelin.«
»Wie heißt sie?«
»Else Cronen. Sie wohnt übrigens in Wuppertal. In Barmen.«
»Wie alt ist die Dame?«
»Hm - so an die achtzig. Ein bißchen geistig verwirrt. Aber was ich eigentlich sagen wollte …«
Satorius war offenbar verärgert, daß ich ihn ein bißchen von seiner Entdeckungsstory abgebracht hatte. Aber er fand schnell wieder den Anschluß und erzählte mir aufs neue, daß der lange verschollene Walzer zum Vorschein gekommen war, als ein Privatmann - der im übrigen nicht genannt sein wollte - seinen Dachboden aufräumte und dabei ziemlich viele Noten fand, daß dieser Privatmann Satorius beauftragt habe, diese Noten fachkundig zu sichten und so weiter und so weiter.
»Und seitdem feiert man Sie als großen Wuppertaler Musikforscher«, fiel ich ihm irgendwann in die Rede und beschloß, die Herrlichkeit des Professors ein bißchen anzukratzen. »Hätte nicht jeder das Stück entdecken können?«
Satorius winkte lässig ab. Ich spürte, daß er diesem Argument schon oft begegnet war.
»Natürlich hätte es jeder entdecken können. Jeder kann die Theorie der Schwerkraft entdecken, denn jeder Mensch weiß, wie Schwerkraft wirkt.«
Regina Mallberg hat sie sogar am eigenen Leib zu spüren bekommen, fügte ich in Gedanken hinzu.
»Aber nur ein Newton«, schloß Satorius seinen Gedanken, »wußte aus den Dingen die richtigen Schlüsse zu ziehen.« Statt Schlüssen zog der Newton der Musik ein Heft aus seiner Aktentasche.
»Leider kann ich Ihnen nur die Fotokopie zeigen. Das Original ist natürlich nicht
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