Die Tote von Buckingham Palace
erkannte die Achtung in den Augen der anderen, die versteckte Bewunderung und die gleichfalls versteckte Furcht. Diesmal war er nicht bereit zu spielen. Die Notwendigkeit, fortwährend seine Worte auf die Goldwaage zu legen und sogar auf jede seiner Gesten zu achten, die Einsamkeit, die ihn umgab, zehrten an ihm. Gewiss, Pitt fühlte sich in der erstickenden Atmosphäre des Palastes gefangen, doch war die Zeit absehbar, die er dort verbringen musste. Es würde sich äußerstenfalls um wenige Tage handeln. Danach konnte er wieder zu seiner Frau zurückkehren, in eine Umgebung, in der ihn Güte und Wärme erwarteten, zu einer Sicherheit, die Narraway nie kennenlernen würde. Jemand wie Pitt konnte auch dann keinen dauerhaften Schaden nehmen, wenn all seine Träume zuschanden würden und jemand an allem Verrat übte, was ihm sein Leben lang heilig gewesen war. An das, was tief in seinem Inneren ruhte, kam niemand heran. Ob er eine Vorstellung davon hatte, wie glücklich er war?
Nach einigem Suchen stieß Narraway auf Welling, den Mann, mit dem er sprechen wollte. Er setzte sich ihm gegenüber, im Bewusstsein, dass er ihn in einer kurzen Verschnaufpause störte, er aber nicht wagen würde, sich das zu verbitten.
Doch was blieb Narraway anderes übrig? Er war auf seine Fähigkeit angewiesen, aus noch so unbedeutend erscheinenden Hinweisen etwas herauszulesen.
Welling hob den Blick und kehrte aus seiner Versunkenheit in die Wirklichkeit zurück. »Um wen geht es diesmal?«, fragte er.
»Sorokine«, gab Narraway zur Antwort.
»Der ist tot. Ein guter Mann. Vor etwa fünf Jahren gestorben. Wundert mich, dass Sie das nicht wussten.« In seinen Augen schimmerte leise Befriedigung.
»Ich meine Julius Sorokine«, unternahm Narraway einen neuen Anlauf.
Der Ausdruck von Befriedigung verschwand von Wellings Zügen. »Ach so. Hm. Der Sohn. Auch ein guter Mann. Allerdings könnte es ihm nicht schaden, wenn er etwas weniger gut aussähe. Braucht sich nicht anzustrengen. Das wird sich wohl bald ändern. Vor ein paar Monaten hat er sich ein bisschen mehr Mühe gegeben, dann aber wieder nachgelassen.«
»Was meinen Sie mit ›nachgelassen‹?«, fragte Narraway verblüfft. Die Äußerung schien ihm keinen rechten Sinn zu ergeben und vor allem nicht zu dem angeblichen Mörder aus Kapstadt zu passen, den er suchte. Alles, was von der Norm abwich, war es wert, näher untersucht zu werden. »Womit hat er sich denn beschäftigt?«
»Sie sollten mich nicht wie einen Dummkopf behandeln, Narraway«, sagte Welling schroff. »Er steht in Verhandlungen wegen Dunkelds verdammter Eisenbahn, redet mit den Belgiern, den Deutschen und allen möglichen afrikanischen Ländern bis rauf nach Khartum.«
»Und da hat er also nachgelassen? Warum?« Wider Willen war Narraway jetzt interessiert. Mit einem Mal schien Sorokines Persönlichkeit schwerer fassbar zu sein, als er angenommen hatte. »Hat sich jemand an ihn rangemacht?« Dabei konnte es nur um eine Art besonders gemeinen Vertrauensbruchs gehen. Vermutlich war Geld im Spiel.
Welling lächelte, wobei er den Mund kaum verzog. »Das bezweifle ich. In Bezug auf Afrika kann außer Watson Forbes keiner Cahoon Dunkeld das Wasser reichen. Ganz davon abgesehen, ist Sorokine Cahoons Schwiegersohn. Da würde er sich ja auch ins eigene Fleisch schneiden.«
»Was also ist es? Faulheit?«
Welling zuckte die Achseln. »Ich kann mich da nur auf Gerüchte verlassen, die aber vermutlich jeder Grundlage entbehren.«
»Sabotage?«, unternahm Narraway einen neuen Anlauf. Hatte sich jemand näher mit dem alten Mordfall beschäftigt und dabei etwas entdeckt? Oder gab es womöglich ein weiteres Verbrechen, und Sorokine wurde damit erpresst? Das fiel ihm schwer zu glauben, weil er der Ansicht war, dass diese Art von Mord auf den Ausbruch finsterer Mächte in der Seele des Mannes zurückging, denen sich mit keiner noch so wilden Drohung gebieten ließ.
»Sabotage darf man nie ausschließen.« Welling hatte ihn ganz offenkundig missverstanden. »Elftausend Kilometer Schienenstrang, zum größten Teil ungeschützt? Entschuldigung, aber das ist eine dumme Frage.«
»Es geht nicht um den Schienenstrang«, gab ihm Narraway zu verstehen, »sondern um das Bahnprojekt als Ganzes.«
»Und das soll jemand sabotieren, indem er Sorokine auf die eine oder andere Weise aus dem Weg räumt? Möglich wäre das schon. Aber ziemlich kurzsichtig und der Mühe kaum wert.« Wellings Blick wurde aufmerksamer, und er setzte sich ein
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