Die Tote von Buckingham Palace
Menschen, die sie bewundert hatte, waren weder klüger noch tapferer als sie. Im Palast war es wie überall, dort herrschten Kleingeisterei, Eifersüchteleien, und kaum jemand nahm es mit der Wahrheit genau, wenn es um die Sicherheit der eigenen Position ging. In dieser Schlangengrube schien Pitt jetzt im Begriff, seinem Untergang entgegenzugehen, ohne dass jemand da war, den er hätte um Hilfe bitten können.
Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen.
Wieder musste Pitt warten, bis der Kronprinz bereit war, ihn zu empfangen. Die Zeit glitt ihm durch die Finger. Jeden Augenblick würde Narraway mit einigen Polizeibeamten zurückkehren, um Sorokine fortzubringen. Natürlich könnte man ihn anschließend wieder freilassen, doch wäre es weit besser, den Fehler gar nicht erst zu begehen. Niemand gibt gern zu, dass er sich geirrt hat, und je mehr dabei auf dem Spiel steht, umso geringer ist die Bereitschaft dazu.
Er riss ein Blatt aus seinem Notizbuch und schrieb darauf: »Ich weiß jetzt, worin Dunkelds Hilfe bestanden hat. Mittlerweile
aber brauchen Sie noch mehr Hilfe. Pitt.« Er gab es einem Lakaien.
Fünf Minuten später führte ihn dieser vor den Kronprinzen und zog sich dann wieder zurück. Der Prinz war bleich, seine Stirn war von Schweiß bedeckt.
»Was soll das bedeuten, Sir?«, fragte er und hielt das Blatt hoch. »Das sieht mir ganz nach einem … Erpressungsversuch aus.«
»Nein, Sir«, sagte Pitt mit so viel Respekt, wie er heucheln konnte. »Es ist im Gegenteil der Versuch, eine Erpressung zu verhindern. Ich habe Grund zu der Annahme, dass sich Mr Dunkeld große Mühe gegeben hat, Sie als äußerst verwundbar erscheinen zu lassen, Sir, und ich habe die Absicht, dafür zu sorgen, dass er aus diesem geradezu genial eingefädelten Plan keinen Nutzen ziehen kann.«
»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen. Sie befinden sich auf gefährlichem Boden, Inspektor. Mr Dunkeld zählt zu meinen Freunden. Er ist tüchtig, ein Ehrenmann und überaus verlässlich – weit verlässlicher als Sie, ein bezahlter Diener der Krone, wenn ich Sie daran erinnern darf.«
»Gewiss, Sir.« Pitt atmete betont langsam ein. Ihm war bewusst, in welche Gefahr er sich begeben hatte. Falls er sich irrte, war er am Ende und würde nicht einmal mehr als gewöhnlicher Streifenpolizist arbeiten dürfen. »Sie waren in Gesellschaft einer außergewöhnlich intelligenten und geschickten Prostituierten, die darauf bestanden hat, Ihnen ihre Gunst nur im Bett der Königin zu gewähren …«
» Was … erlauben Sie sich!«, stieß der Prinz hervor.
»Da Ihnen das nicht weiter schlimm zu sein schien«, fuhr Pitt fort, »sind Sie mit ihr dorthin gegangen und eingeschlafen, nachdem sie ihr Versprechen gehalten hat. Dazu dürfte ein in Ihr Getränk gemischtes Schlafmittel beigetragen haben. Als Sie wieder wach wurden, lag eine Tote neben Ihnen, oder möglicherweise haben Sie um sich herum auch nur eine Menge Blut gesehen …«
Der Prinz war aschfahl. Er schien dem Ersticken nahe und
fuhr sich mit der Hand an den Kragen. Pitt hoffte inständig, dass das kein Vorbote eines Schlaganfalls oder Herzinfarkts war. Er wusste nicht, wie er ihm helfen sollte. Eine solche Reaktion hatte er nicht vorausgesehen.
Er wandte sich um und ging zur Tür, um Hilfe herbeizurufen.
»Warten Sie!«, rief der Prinz. »Warten Sie.«
Pitt blieb stehen.
»Ich habe sie nicht getötet!«, rief der Prinz verzweifelt aus. »Ich schwöre es auf Englands Krone; ich habe ihr nicht das Geringste angetan.«
»Das ist mir bekannt, Sir«, sagte Pitt ruhig und wandte sich ihm wieder zu. »Sie war tot, bevor man sie in den Palast gebracht hat.«
»Sie kann unmöglich … Was sagen Sie da? Dass ich bei einer Toten gelegen habe? Ich versichere Ihnen, dass sie ausgesprochen lebendig war.«
»Ja, Sadie. Aber die Leiche neben Ihnen, die später in der Wäschekammer aufgefunden wurde, war nicht Sadie«, erklärte Pitt. »Damit niemand das merkte, hatte man ihre Kleider beseitigt. Für eine andere Lösung war vermutlich nicht genug Zeit. Mr Dunkeld hat doch alles für Sie erledigt, nicht wahr? Er hat das Bad eingelassen und Ihnen geraten, alles Blut abzuwaschen, während er selbst die Leiche und die blutigen Laken beseitigt hat. Später hat er vertrauenswürdigen Dienstboten den Auftrag erteilt, alles aufzuräumen und das Blut vom Fußboden zu entfernen. Außerdem hat er den zerbrochenen Tafelaufsatz ersetzt, von dem Sie angenommen hatten, Sie hätten ihn in einem Anfall von Wut
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