Die Tote von Harvard
leidenschaftlich, dazu ist sie viel zu arrogant.«
»Wo ist da der Zusammenhang?«
»Nun, der eine hat sie beleidigt, der andere hat schlechte Manieren, wieder ein anderer keinen Stil. Sie ist dumm genug, gebieteri-sche Männer zu mögen. Und ich war dumm genug, ihr das vorzu-spielen. So landeten wir vor dem Traualtar. Zum unendlichen Bedauern ihrer Eltern, von meinen ganz zu schweigen. Inzwischen ist sie eine berühmte Wissenschaftlerin, und ich bringe an der Universität von Minneapolis den Studenten bei, wie man lesbare Texte verfaßt. Wie ich höre, hast du schließlich doch geheiratet.«
»Ja«, sagte Kate. »Habe ich dich wirklich so lange nicht mehr gesehen? Er ist in Afrika, Asien – irgendwo in der Dritten Welt.« In einer anderen Welt, dachte Kate.
»Was mich betrifft, ich war in der Zwischenzeit noch zweimal verheiratet, was ich lieber hätte bleiben lassen sollen. Vielleicht liegt es an mir, aber ich glaube eher, es liegt an den Frauen. Ich will nicht vollkommen sein. Mir liegt nichts an Erfolg. Mir liegt viel an Sex, und ich singe gern. Ich habe mich gefreut, als ich hörte, daß du herkommst. Harvard ist ein kaputter Ort, vierundzwanzigkarätig, durch und durch kaputt. Durch dich wird’s besser.«
Kate betrachtete Moon. Nach – wie vielen? – Jahren sah er kaum verändert aus. Vielleicht brauchte sie eine Brille – aber für sie sah 48
Moon genauso gut aus wie früher und war noch immer so ungeheuer attraktiv. Genau in diesem Moment, hier in ihrem Arbeitszimmer über dem Radcliffe-Campus, hatte er dieselbe Wirkung auf sie wie eh und je. Kate wußte, daß die Ereignisse der letzten Zeit zuviel gewesen waren und sie drauf und dran war, sich dieser Wirkung zu überlassen. Ihre einzige Rettung war, daß Moon das vielleicht nicht spürte. Aber Moon hatte es immer gespürt.
»Alles, was ich habe«, sagte er, »ist ein schreckliches Zimmer draußen am Central Square. Außerdem eine Küche und ein Bad. Ich habe eine Matratze auf dem Fußboden, meine Gitarre, eine Flasche Tequila – von einem Studenten, der letztes Semester Examen machte, vielleicht wird er ja Schriftstellerund eine Zitrone. Hast du Zeit?«
»Denken Sie daran«, hatte die Frau vom Institut gesagt, als sie Kate ihr Arbeitszimmer zeigte, »immer abzuschließen, wenn Sie gehen.« Kate dachte daran.
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Fünf
Viele Jahre später irrte Ödipus alt und blind durch die Straßen. Ein vertrauter Geruch stieg ihm in die Nase. Es war die Sphinx. Odipus sagte: »Ich will dir eine Frage stellen: Warum habe ich meine Mutter nicht erkannt?« -»Weil du die falsche Antwort gegeben hast«, sagte die Sphinx… »Als ich dich fragte: ›Was läuft morgens auf vier Beinen, mittags auf zwei und abends auf drei‹, hast du geantwortet: der Mensch. Von Frauen hast du nicht gesprochen.« Und Odipus sagte:
»Aber wer Mensch sagt, schließt doch die Frauen mit ein. Jeder weiß das.« – »Das glaubst du«, sagte die Sphinx.
Muriel Rukeyser ›Myth‹
Kate entwickelte eine Art täglicher Routine. Morgens arbeitete sie in ihrem Zimmer im Institut; sie hatte sich auf ein Datum festgelegt – gegen Ende des Semesters –, zu dem sie ihre Vorlesung halten würde, und inzwischen hatte sie auch einige der anderen Lehrbeauftragten kennengelernt, Frauen, die sich wie Kate glücklich schätzten, so viel Freiraum zu haben, daß sie ihren eigenen Universitäten für eine Weile den Rücken kehren konnten.
Wenn Kate nicht arbeitete, ging sie auf dem Mount Auburn Friedhof spazieren, manchmal allein, manchmal mit Moon oder einer Frau, mit der sie sich angefreundet hatte. Woanders konnte man in Cambridge nicht Spazierengehen. Kate stellte erstaunt fest, daß in Cambridge, im Gegensatz zu New York, der Schnee nicht von den Bürgersteigen geräumt wurde. Der geschmolzene Schnee von ges-tern bildete eine Eisschicht unter dem Schnee von morgen, und schnell zu gehen, sich überhaupt auf die Bürgersteige zu wagen, war gefährlich. Kate, die jeden Tag ein Stück gehen mußte, so wie sie jeden Tag ein paar Stunden für sich allein brauchte, hatte in dem Friedhof die Lösung gefunden. Schon bald war es ihr gelungen, die phallischen Monumente zu ignorieren – und auch die flacheren, auf denen oft nichts weiter als »Mutter« stand – und sich an den Bäumen und Teichen und Vögeln zu erfreuen. Im Frühling, so hatte man ihr erzählt, wenn die japanische Kirsche und die anderen Bäume in Blüte standen, bräche hier das Paradies aus. Kate hatte erfahren, daß Henry
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