Die Tote von Harvard
den gespenstischsten Erfahrungen ihres ja auch ansonsten nicht ereignislosen Lebens gehört. Sie mußte sich die Eingangstür selbst aufschließen. Keine Menschenseele war zu sehen. Das alte Haus knarrte und stöhnte. Jedes Geräusch hallte wider. Keine Frage, man hätte alles mögliche unbemerkt hier herumschleppen können.
Auch die Frage, wer Schlüssel zum Warren-Haus besaß, brachte sie nicht weiter: Zu viele Schlüssel waren im Umlauf, und Kopien konnten mit Leichtigkeit beschafft werden. Trotzdem – die Tatsache, daß wohl nur jemand, der im Besitz eines Schlüssels war, als Täter in Frage kam, war zweifellos belastend, denn sie wies auf ein Mitglied der anglistischen Fakultät hin und grenzte die Gruppe der Verdächtigen stark ein. Einem gründlichen Verhör unterzogen hatte man bisher nur die Sekretärinnen (natürlich, wen sonst! schimpfte Kate vor sich hin).
Dem Polizeibericht beigefügt war eine Beschreibung des Gifts, die Kate überflog: Der charakteristische Geruch von Zyankali, das auch unter dem Namen Cyanwasserstoffsäure und Blausäure bekannt ist, umgibt die Leiche noch geraume Zeit nach Eintritt des Todes. Es 88
handelt sich um ein sofort wirksames Gift, qualvoll, aber schnell (auch das, murmelte Kate vor sich hin, ist keine Neuigkeit). Atembe-schwerden, gefolgt von Krämpfen, und dann der Tod. All dies geschieht innerhalb von Sekunden. Ein grausamer Tod, aber der Mörder kann sicher sein, daß jede Hilfe zu spät kommt. Hatte Janet Mandelbaum ihren Todestrunk ganz geleert? Oder war die Mixtur so stark gewesen, daß ein einziger Schluck reichte? Aber dann hätte der Drink mehr als eine Kapsel enthalten müssen.
Warum die Männertoilette? Wenn man all den Anzeichen der Feindseligkeit gegenüber der ersten Professorin in dem bis dahin rein männlichen Fachbereich keine Aufmerksamkeit schenken wollte, und die Polizei beliebte, ihnen keine Aufmerksamkeit zu schenken (Kate schnaufte verächtlich), blieb der Fakt, daß die Männertoilette zwei unübersehbare Vorteile aufwies: Sehr viele hatten Zugang zu ihr, und sie lag im ersten Stock, während die Damentoilette im zweiten war – und an jenem Ort, diese Feststellung traf der Polizeibericht geradezu genüßlich, sei das Opfer zu einem anderen Zeitpunkt schon einmal in Bedrängnis geraten, ohne jedoch Schaden zu nehmen (zu dieser Feststellung kam Kate ein Kommentar über die Lippen, der weder schmeichel- noch damenhaft war). Außerdem wurde die Männertoilette später benutzt als die der Damen, denn als erste trafen immer die Sekretärinnen ein. Der Präsident, der Leiter der akademischen Stellenvermittlung und die anderen Herren kamen später und an manchen Tagen gar nicht.
Die Polizei hatte jeden vernommen, der je etwas mit Janet Mandelbaum zu tun hatte, dazu gehörten natürlich auch alle, die auf jener Party waren, die mit dem Badewannen-Zwischenfall geendet hatte.
Vernommen wurden auch alle, die die Ermordete gekannt hatten, ehe sie nach Harvard kam, und sich zur Zeit des Mordes in Harvard aufhielten. Zu diesem Kreis zählte ihr früherer Ehemann, »Moon«
Mandelbaum, von dem sie seit über zwanzig Jahren geschieden war.
Daß sie nach all den Jahren gleichzeitig nach Harvard kamen, ordne-te der Polizeibericht als klassischen Zufall ein. Auch der Besuch von Kate Fansler, die das Opfer vom Studium her kannte, sei als solcher zu sehen. Außerdem waren verhört worden: die Familie, bei der das Opfer sich eingemietet hatte. Sie wußten wenig über ihre Mieterin.
Ferner: Alle Mitglieder von Harvards Fachbereich Anglistik, die ausnahmslos nur Bewunderung für das Opfer und ihr tiefes Bedauern über deren Tod ausdrückten (Kate entschlüpfte ein unflätiges Wort).
Alle betonten die gute Arbeit, die Professor Mandelbaum geleistet 89
habe. Die Sekretärinnen vom Warren-Haus sagten – mehr oder weniger – dasselbe. Außerdem hatte man die Professoren anderer Fakultäten befragt, die bei der einen oder anderen Gelegenheit mit dem Opfer zu tun gehabt hatten. Außer einigen Studenten und flüchtigen Bekannten waren noch vernommen worden: Luellen May, die in einer reinen Frauenkommune in Cambridge lebte; Howard Falkland, der auf der besagten Party im Warren-Haus gewesen war; John Lightfoot, der Luellen May Vorjahren im Harvard College kennengelernt hatte; die Frau, die die Wohnung des Opfers putzte. Kein besonders reichhaltiges Angebot an Verdächtigen, dachte Kate traurig, zumal die, die am verdächtigsten waren, die Herren mit Amt und Würden in
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