Die Tote Von Higher Barton: Ein Cornwall-Krimi
bald außer Sicht waren. Sie nahm den Hut wieder ab, reichte ihn Abigail und legte die Sonnenbrille auf den Tisch.
„Verzeih, Abigail, aber ich wollte nicht erkannt werden.“
„Das habe ich mir bereits gedacht“, entgegnete Abigail spitz. „Wer waren die beiden?“
Mabel bemühte sich um ein unverbindliches Lächeln. „Sie gehören zu der Theatergruppe, die Verrat in Lower Barton aufführt. Du weißt doch, Abigail, ich nähe die Kostüme für das Stück.“
Abigails Blick blieb skeptisch. „Warum wolltest du nicht, dass sie dich erkennen?“ Langsam dämmerte es Abigail. „Mabel, du jagst doch nicht etwa immer noch dem Hirngespinst, ein totes Mädchen in meinem Haus gesehen zu haben, nach?“ Mabels Gesichtsausdruck sprach Bände, und Abigail schüttelte entsetzt den Kopf. „Meine Liebe, ich dachte, die Sache wäre erledigt und du hättest eingesehen, dass du einfach nur übermüdet warst.“
„Das war ich nicht“, begann Mabel und wurde von Abigail sofort schroff unterbrochen.
„Lower Barton ist eine kleine Gemeinde, hier kennt jeder jeden. Wir vom Herrenhaus haben eine Art Vorbildfunktion,diesbezüglich sind die Menschen auf dem Land noch nicht im einundzwanzigsten Jahrhundert angekommen. Ich muss dich inständig bitten, diese Sache zu vergessen und nie wieder zu erwähnen.“
Den Zusatz „Du bist schließlich Gast in meinem Haus“ sprach Abigail zwar nicht aus, Mabel las es jedoch in ihrem Gesicht.
„Du bist um deinen Ruf besorgt?“, fragte sie überrascht.
Abigail gab sich keine Mühe, dies zu leugnen. „Die Leute reden nun mal gerne, und wenn bekannt wird, dass die Cousine von Lady Tremaine meint, Tote zu sehen und unschuldige junge Leute des Mordes verdächtigt, wäre das für das Ansehen von Higher Barton wenig förderlich.“
„Was, glaubst du, würden die Leute reden, wenn sie wüssten, dass eine Lady Tremaine sich einen Chauffeur, der ihr Sohn sein könnte, ins Bett holt?“
Gleich nachdem Mabel die Worte ausgesprochen hatte, wusste sie, dass sie zu weit gegangen war. Abigail presste die Lippen zusammen, auf ihrer Stirn entstand eine steile Falte und sie zischte: „Ich glaube, es ist besser, wir gehen.“
Ohne Mabel weiter zu beachten, stand sie auf und schritt hoheitsvoll wie eine Königin in Richtung Kirche davon. Mabel blieb nichts anderes übrig, als das Geschirr und die Essensreste in den Picknickkorb zu räumen, sich diesen und die Decken unter den Arm zu klemmen und ihrer Cousine zu folgen. Sie hoffte, Abigail würde vor Ärger nicht ohne sie losfahren, denn der Weg von der Talland Bay nach Higher Barton war weit.
Auf halber Höhe der Straße nach Porthallow kam ihnen Justin Parker entgegen. Mabel sah, wie Abigail ein paar hastige Worte mit dem Chauffeur wechselte, woraufhin er sie, Mabel, mit einem ärgerlichen Ausdruck ansah. Trotzdem nahmJustin ihr den Korb und die Decke ab und verstaute sie im Kofferraum. Als Mabel in den Wagen stieg, sagte sie leise: „Es tut mir leid, Abigail, ich hätte das nicht sagen sollen.“
„Du hast recht –
das
hättest du nicht sagen sollen.“ Abigails Stimme war eisig.
Während der Heimfahrt sprachen die Frauen kein Wort miteinander, und Abigail starrte angestrengt aus dem Fenster. Obwohl es früher Nachmittag war, zog sie sich gleich in ihr Zimmer zurück und gab Emma Penrose die Anweisung, sie würde den Tee sowie das Abendessen allein in ihren Räumen einnehmen. Auf eine weitere Entschuldigung Mabels reagierte Abigail nicht, und Mabel konnte es ihrer Cousine nicht verübeln. Künftig musste sie versuchen, ihre Zunge besser im Zaum zu halten.
Den Rest des Tages verbrachte Mabel in ihrem Zimmer, unablässig über das Gespräch zwischen Michael und Jennifer nachgrübelnd. Obwohl sie den arroganten jungen Mann nicht mochte, traute sie ihm keinen kaltblütigen Mord zu. Mabel dachte an Michaels Hände. Im Gegensatz zu Jennifer hatte er zweifelsohne die Kraft, jemanden zu erdrosseln, doch die Vorstellung, diese Hände könnten den Strick um Sarahs Hals gelegt haben, ließ sie erschauern. In Laufe ihres Lebens hatte sie viele Menschen kennengelernt, die sich aufgrund ihres attraktiven Äußeren für etwas Besseres hielten und dachten, die Welt müsse ihnen zu Füßen liegen. Michael Hampton gehörte zweifelsohne zu dieser Sorte, war er aber deswegen gleich ein Mörder?
Gegen Abend schien Mabels Schädel zu platzen und sie hatte pochende Kopfschmerzen. Mrs Penrose servierte ihr eine heiße Gemüsesuppe und kalten Braten, von dem
Weitere Kostenlose Bücher