Die Tote Von Higher Barton: Ein Cornwall-Krimi
hatte. Einen Unfall, der – davon war Mabel überzeugt – ganz bestimmt keiner war.
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Nach dem unerfreulichen Gespräch mit dem Chefinspektor blieb Mabel nichts anderes übrig, als nach Higher Barton zurückzukehren. Zu gern wäre sie ins Krankenhaus gefahren, um sich nach Michaels Zustand zu erkundigen, sie wusste aber aus eigener Erfahrung, dass man ihr keine Auskunft erteilen würde. Sie war keine Angehörige, ja, nicht mehr als eine flüchtige Bekannte, und da der junge Mann im Koma lag, konnte sie sich die Fahrt nach Plymouth, wohin man Michael gebracht hatte, sparen.
Das Herrenhaus lag still in der Frühlingssonne, als Mabel ihren Wagen vor den Garagen parkte. Auf der dahinterliegenden Koppel wieherte ein Pferd, und eine schwarze Katze schlich auf der Suche nach Mäusen durch das Gras. In der Luft lag der intensive Geruch des Meeres, offenbar wehte der Wind von Süden her. Vögel sangen in den Bäumen und Mabel dachte, dass Higher Barton wirklich ein wunderschöner Ort war. Ein Fleckchen Erde, an dem man alt werden konnte …
Schnell schüttelte sie den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben. Zum einen war sie bereits alt, zum anderen dachte sie doch nicht wirklich daran, für immer hierzubleiben? Abigail würde noch lange leben, und Mabel hatte keine Lust, auf Dauer unter einem Dach mit ihrer Cousine zu wohnen. Sogenannte Alten-WGs waren neuerdings zwar in Mode, Mabel war jedoch daran gewöhnt, allein zu leben und sich ihren Tagesablauf so einzuteilen, wie es ihr gefiel und ohne sich mit jemandem absprechen zu müssen. Auf keinen Fall würde sie diese Freiheit aufgeben.
Und was hast du mit deiner Freiheit in den letzten Monaten angestellt? Eine leise Stimme meldete sich in ihrem Kopf.Seit Mabel pensioniert war, waren ihr die Tage lang geworden. Ein Hobby, dem sie mit Leidenschaft nachgehen könnte, hatte sie nicht. Die Arbeit hatte ihr nie Zeit gelassen, sich außerhalb des Krankenhauses etwas aufzubauen oder intensive Freundschaften zu pflegen. Natürlich hatte Mabel ein gutes Verhältnis zu ihren Kolleginnen gehabt, war mit der einen oder anderen auch mal ausgegangen oder hatte sie zu sich eingeladen, eine richtige Freundin besaß sie jedoch nicht. Die Kolleginnen in ihrem Alter, die ebenfalls im Ruhestand waren, hatten alle Familie und waren mit Leib und Seele Oma. Mehr als eine Verabredung in einem Café alle paar Wochen war nicht drin, denn die Damen litten allesamt unter dem sogenannten Rentnerstress und hetzten von einem Termin zum nächsten. Die Londoner Museen hatte Mabel zu Genüge besucht. Selbst im Britischen Museum, das immerhin das größte des Landes war, war Mabel keine Abteilung unbekannt, und allein ins Theater oder in die Oper zu gehen, machte ihr keine Freude.
„Dir ist langweilig“, sagte Mabel laut und kam nicht umhin, sich die Wahrheit einzugestehen. Wenn sie an die letzten zwei Wochen dachte, dann waren diese wie im Flug vergangen. Mabel schien es, als würde die Zeit nur so rasen, seit sie in Cornwall war, und für Geruhsamkeit und Nichtstun war sie nicht geschaffen. Gut, als sie nach Cornwall gekommen war, hatte sie nicht erwartet, gleich über eine Leiche zu stolpern. Sarah Millers Tod, das musste sie sich eingestehen, hatte jedoch einen gewissen Pep in ihr Leben gebracht, wie die jungen Leute sagten. Auch die Arbeit in der Theatergruppe machte ihr Spaß, und sie freute sich auf jedes Treffen – nach der Aufführung würde damit allerdings Schluss sein.
Die Theatergruppe! Was würde Eric Cardell nun machen, nachdem Michael verunglückt war? Immerhin war er alsPrinz Charles einer der Hauptdarsteller. Mabel überlegte, wer aus der Gruppe für die Rolle des Prinzen in Frage käme, sie kannte die jüngeren Männer aber zu wenig, um zu beurteilen, inwieweit diese fähig waren, in kurzer Zeit eine neue Rolle zu lernen. Mit Jennifer hatte Eric Cardell Glück gehabt. Dem Mädchen war die Rolle der Mary Lerrick nicht fremd gewesen, aber Mabel befürchtete, dass keiner der Männer Prinz Charles bereits zuvor gespielt hatte.
In Gedanken versunken betrat Mabel die Halle und wandte sich zur Bibliothek. Da sie für den Nachmittag keine Pläne hatte, wollte sie sich ein Buch holen und es sich auf der Terrasse in der Sonne bequem machen.
„Oh, Entschuldigung.“ Mabel zuckte zurück, nachdem sie die Tür geöffnet hatte und Abigail bemerkte. Die Cousine war nicht allein. Parker stand hinter ihr, eine Hand auf Abigails Schulter gelegt und den Kopf zu ihrem Nacken gebeugt, als wollte
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