Die Tote von San Miguel
Stadt nicht für die Touristen in einem »authentischen« Zustand bewahren, hätten wir hier längst schon anständig gepflasterte Straßen , dachte er. Nicht diese ausgetrockneten Bachläufe, in denen man sein Auto in seine Einzelteile zerlegte und einem beim Fahren die Organe aus sämtlichen Körperöffnungen zu hüpfen versuchten.
Während sie eine steil abfallende Straße an diversen Antiquitätenläden und Geschäften für hochwertige Möbel vorbeifuhren, rutschte Diaz’ Hand ohne Absicht von der Gangschaltung und glitt über Alitas Schenkel.
Plötzlich erregte etwas in einem der Schaufenster seine Aufmerksamkeit. Verdammte Scheiße, das darf doch wohl nicht wahr sein! , durchzuckte es ihn. Er trat augenblicklichauf die Bremse. Der Wrangler hielt so abrupt, dass er und Alita heftig in ihre Sicherheitsgurte geschleudert wurden.
»Jesus, Hector!«, rief Alita. »Versuchst du etwa, mich umzubringen? Ich bin schon zu alt, um jetzt noch zu sterben!«
Doch Diaz war bereits aus dem Jeep gesprungen. Er eilte ein paar Schritte über die Straße zurück und blieb vor dem Antiquitätenladen stehen.
In der Mitte des Schaufensters stand eine etwa zwei Drittel Meter große Statue, die Verschmelzung der Oberkörper von drei anmutigen jungen Frauen, die natürlich völlig nackt waren. Jedes Detail ihrer Körper war im hyperrealistischen Stil modelliert worden. Sie lächelten verführerisch und protzten mit üppigen Titten. Die Statue bestand aus Keramik mit einem Hochglanzüberzug.
Es konnte nicht der geringste Zweifel daran bestehen, dass Amanda Smallwood für die Frau in der Mitte des Trios Modell gestanden hatte. Diaz würde ihr Gesicht bis zur Stunde seines Todes nicht mehr vergessen.
Die drei Nornen , dachte er. Oder die drei Huren Babylons .
In eine Ecke der Skulptur waren die Initialen C. V. eingraviert.
Im Inneren des Ladens herrschte absolute Dunkelheit. Laut einem Schild vor der verschlossenen Tür öffnete das Geschäft wieder am Montagvormittag um zehn Uhr. Syd’s Collectibles stand in goldenen Lettern auf der oberen Hälfte der Schaufensterscheibe.
Syd war einer von diesen androgynen Namen, und Diaz fragte sich, wie irgendein Mensch sein Kind nur Syd nennen konnte.
Claro , es sollte keinerlei Problem geben, von Syd – wer er oder sie auch immer sein mochte – bis spätestens ein Uhram nächsten Tag zu erfahren, für welchen Namen die Initialien C. V. standen und wo der Künstler wohnte. Er würde Felicia darauf ansetzen.
Alita erschien neben Diaz und sah zu, wie er zum zweiten Mal an der verschlossenen Tür rüttelte. »Ich würde sagen, der Laden ist nicht mehr geöffnet«, sagte sie. »Wozu überhaupt der ganze Aufstand? Ist dir plötzlich eingefallen, dass du ganz vergessen hast, deiner Freundin ein Geburtstagsgeschenk zu besorgen?«
»Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte Diaz ausweichend.
Er führte Alita zurück zu seinem Jeep und fuhr weiter. Ihm war plötzlich der Appetit vergangen. Und auch jedes Verlangen nach einer sonntäglichen Nummer mit all den Emotionen, die er dabei würde befriedigen müssen, selbst wenn es sich bei der Gespielin um eine alte und nur allzu willige Bekannte handelte. Von einem Augenblick zum anderen schrie wieder alles in ihm danach, Amanda Smallwoods Mörder zu finden. Unvermittelt hatte sich eine neue Spur aufgetan. Er fühlte sich wie Professor Challenger aus dem Roman Die Vergessene Welt von Arthur Conan Doyle, als dieser durch die dichte Wolkendecke in die seit Millionen von Jahren vergessene Welt hinabgestiegen war. Nun ja, vielleicht war der Vergleich ein bisschen übertrieben. Auf die Initialen C. V. zu stoßen war nicht unbedingt genauso erregend wie einen Ort zu entdecken, der noch immer von Dinosauriern bevölkert wurde.
Als Diaz die nächste Biegung umrundete, fuhr er – wie der Zufall es wollte – genau auf den Strauchdieb Emile Zato zu, der gerade die kleine Plaza vor der Kirche des heiligen Franziskus überquerte. Der heimatlose Soziopath trug immer noch denselben dreckigen Schaffellumhang. Sein Haar,das die Farbe von ausgeblichenem gelbem Heu und Schafmist hatte, hing ihm tief in die Stirn.
War es denkbar, dass Zato Amanda Smallwood ermordet hatte? Eine zufällige Begegnung auf einer dunklen, von Nebelschwaden verhangenen Straße? Die Idee schwirrte wie eine in Diaz’ Kopf gefangene Wespe umher.
Plötzlich drehte sich Zato zu ihm um und starrte ihn direkt durch die Windschutzscheibe an, als wollte er ihn mit seinem mörderischen
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