Die Tote von Schoenbrunn
wissen nichts von dieser meiner Schmach. Ich habe nur der Kaiserin davon erzählt, und sie hat den Kerl sofort aus Wien verbannt. Er fristet jetzt irgendwo auf einem ungarischen Gestüt sein Dasein als Pferdeknecht.“
Dorothea erwies in Gedanken der toten Kaiserin Respekt.
„Heute hasse ich Pferde“, fuhr Marie Luise fort. „Ich bin erst in den Dienst Ihrer Majestät getreten, nachdem sie den Reitsport aufgegeben hatte. Als ich jung war, bin ich eine ebenso begeisterte Reiterin gewesen wie sie. Doch nach diesem schrecklichen Vorfall mit meinem Lehrer wollte ich weder von ihm noch von Pferden mehr etwas wissen, wie du dir vorstellen kannst. Eigentlich will ich seither überhaupt nichts mehr mit Männern zu tun haben.“
Dorothea musste unwillkürlich daran denken, wie sehr sie als junges Mädchen in Gustav verliebt gewesen war. Er hatte ihr bei ihren seltenen Begegnungen keinerlei Beachtung geschenkt. Heute war es eher umgekehrt. Sie hatte sein Interesse sehr wohl bemerkt. Und auch sie mochte ihn nach wie vor. Aber er war ihr, trotz seines Alters, immer noch zu unreif. Sie wartete darauf, dass er endlich erwachsen werden würde.
Zu ihrer neuen Freundin sagte sie nichts darüber. Die Comtesse von Batheny war zwar intelligent und gebildet, aber Dorothea hielt sie für schwer neurotisch und nur an sich selbst und ihren eigenen Angelegenheiten interessiert.
Marie Luise begann nun über Stanzi zu reden.
„Mit achtzehn habe ich mich in ihn verliebt. Diese juvenile Schwärmerei hat nicht lange angehalten. Wir haben uns, auf Drängen seiner Frau Mama hin, miteinander verlobt. Kaum hatte ich ihn ein bisschen besser kennengelernt, habe ich das Interesse an ihm verloren. Er ist ein dekadenter Filou! Heute empfinde ich fast nur mehr Ekel für ihn. Wenn er mich küsst, schaudert mich. Wie viele Lippen haben die seinen schon berührt? Wie viele kranke, aussätzige Weiber haben seinen Körper gestreichelt? Nein, ich kann ihn unmöglich heiraten! Stell dir nur vor, was er in der Hochzeitsnacht mit mir anstellen würde. Igitt, igitt! Ich möchte keinesfalls schwanger werden. Allein der Gedanke, ich könnte so fett werden wie meine Schwester Sophie, bringt mich vollends zur Verzweiflung. Lieber würde ich mich umbringen, als mit so einem dicken Bauch herumzulaufen. Die Vorstellung, dass etwas in mir wächst wie ein gefährliches Geschwulst, macht mich halb wahnsinnig. Nein, ich will weder Stanzi noch sonst irgendeinen Mann heiraten und ich will auf keinen Fall Kinder bekommen. Allein beim Geruch eines Kleinkindes wird mir übel.“
Ihr letzter Satz kam Dorothea bekannt vor. Hatte Marie Luise ihr nicht vor kurzem erzählt, dass Ihre Majestät Säuglinge nicht riechen hatte können und deswegen ihre Kinder, als sie klein waren, kaum sehen wollte?
Nach diesem aufschlussreichen Nachmittag in der k.k. Hofzuckerbäckerei Demel brachte Dorothea ihre neue Freundin ins Palais Batheny in der Herrengasse, wo ihr Herr Papa auf sie wartete, um mit ihr gemeinsam hinaus in die Hietzinger Villa zu fahren. Marie Luise bot ihr an, sie im gräflichen Wagen mitzunehmen und bei den Hofstallungen abzusetzen. Dorothea lehnte dankend ab. Nach der stundenlangen Sitzerei auf den schmalen Thonetstühlchen sehnte sie sich nach etwas Bewegung. Außerdem liebte sie lange Spaziergänge. In dieser Hinsicht glich sie eher der Kaiserin als Marie Luise, die nicht besonders gut zu Fuß war.
26
Ein wunderschöner Herbsttag neigte sich dem Ende zu. Dorothea liebte das weiche, warme Abendlicht, das der Reichshaupt- und Residenzstadt einen fast samtigen Glanz verlieh und all den Dreck und Schutt der vielen Baustellen für kurze Zeit vergessen ließ.
Bei Sonnenuntergang schritt sie durch das Michaelertor, vorbei am Eingang zu den Gemächern Seiner Majestät im Reichskanzleitrakt. Jedermann wusste, dass die kaiserlichen Räume sehr spartanisch eingerichtet waren. Angeblich hatte Seine Majestät nicht einmal Fließwasser, während das Badezimmer der Kaiserin selbstverständlich mit fließend Wasser ausgestattet war. In dieser Hinsicht war Ihre Majestät eben eine sehr moderne Frau, dachte Dorothea. Zwar betete sie als überzeugte Republikanerin die verstorbene Monarchin nicht an, wie Marie Luise es tat, doch eine gewisse Bewunderung und vor allem Respekt für ihre Selbständigkeit konnte sie ihr nicht versagen.
Nachdem sie die Wachen beim Michaelertor passiert hatte, fragte sie sich, ob der alte Kaiser mit seinem Hofstaat bereits in die Hofburg zurückgekehrt
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