Die Tote von Schoenbrunn
angezeigt.
Gustav rasierte sich gründlich und zog sich betont langsam und sorgfältig an, entschied sich für einen dezenten grauen Anzug und die bequemsten Schuhe, die er hatte. Dann ging er zu Fuß zur Polizeidirektion. Wer weiß, vielleicht würde es für längere Zeit sein letzter Spaziergang in Freiheit sein.
„Dieser Bastard hat seine Geständnisse widerrufen!“, sagte Rudi anstatt einer Begrüßung.
Erleichtert ließ sich Gustav auf dem Sessel vor Rudis Schreibtisch nieder und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
„Was ist passiert?“
„Als ich ihn noch einmal allein verhört habe, hat Max von Gutbrunnen steif und fest behauptet, dass seine Geständnisse durch die Folter erzwungen worden seien. Den Mord in der Menagerie gibt er zu, auch wenn er von Totschlag redet, aber für die anderen Morde hat er Alibis. Die lass ich gerade überprüfen, befürchte aber, dass sie hieb- und stichfest sind.“
„Dorothea und ich haben von Anfang an nicht daran geglaubt, dass er der Frauenmörder von Schönbrunn ist …“
„Ich auch nicht. Oder besser gesagt, ich war skeptisch. Denn wie soll ein Reitlehrer so einfach ins Schloss hineinkommen? Aber der Druck von oben, diesem Max die Morde anzuhängen, ist ständig größer geworden. Soviel ich gehört habe, interessiert man sich sogar an allerhöchster Stelle für die Fälle. Es scheint den Herrschaften aber in erster Linie darum zu gehen, möglichst rasch jemanden als Täter festzunageln, damit wieder Ruhe im Volk einkehrt. An der Aufklärung haben sie offenbar weniger Interesse. Nicht die Wahrheit soll um jeden Preis ans Licht kommen, sondern Macht und Stärke der Herrschenden sollen demonstriert werden.“
Rudi klang verbittert. Er sah schlecht aus, hatte dunkle Ringe unter den Augen und seine strähnigen Haare hingen ihm ins Gesicht. Wahrscheinlich hat er schon länger nicht mehr ordentlich geschlafen, vermutete Gustav. An Tagen wie diesen wusste er wieder, warum er seinen Freund nicht um seine sichere Stellung, sein regelmäßiges Gehalt und sein modernes Büro beneidete. Gustav war ein Freigeist und hätte es in diesem hierarchischen Polizeisystem keine Woche lang ausgehalten.
„Außerdem werde ich andauernd in meinen Ermittlungen behindert“, fuhr Rudi fort. „Die Weisungen und Interventionen kommen von ganz oben. Zum Beispiel hat man mir ausdrücklich verboten, die Dienerschaft in Schönbrunn zu verhören. Und genau aus diesem Grund habe ich dich gebeten, zu mir zu kommen. Es wäre mir sehr recht, wenn du deine privaten Ermittlungen fortsetzen würdest. Vielleicht kannst du aufgrund deiner guten Beziehungen mehr ausrichten als ich.“
Von wegen gebeten, dachte Gustav, in Angst und Schrecken hast du mich mit deiner Nachricht versetzt! Er sagte es nicht laut, sondern beteuerte: „Ich werde mich bemühen, deine Erwartungen nicht zu enttäuschen.“
„Ich danke dir, mein Freund.“
So förmlich gingen sie normalerweise nicht miteinander um. Gustav bemühte sich, seine Verlegenheit zu verbergen.
„Ich habe übrigens heute früh sofort veranlasst, den Zoowärter Zoran freizulassen, damit wenigstens einem in diesem verzwickten Fall Gerechtigkeit widerfährt.“
Gustav klopfte Rudi auf die Schulter, bevor er ihn mit seinen ungeklärten Fällen allein ließ.
Am Heimweg kaufte er einem Zeitungsjungen eine Tagespost ab. Mord in der Kaiserlichen Menagerie aufgeklärt , stand auf Seite eins. Rasch überflog er den kurzen Artikel. Es war die Rede von einem Mord aus Leidenschaft. Reitlehrer Max von Gutbrunnen hatte die Tat gestanden. Die Polizei gab bekannt, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis der Täter auch die anderen Morde gestehen würde. Zumindest schien Rudi es geschafft zu haben, dass die durch Folter erpressten Geständnisse des Reitlehrers nicht an die Öffentlichkeit gedrungen waren.
Dorothea, die sich seit dem venezianischen Kostümfest fast täglich mit Gustavs Halbschwester getroffen hatte, war mittlerweile davon überzeugt, dass Marie Luises Geschichte von dem Überfall im Schönbrunner Schlosspark erfunden war. Nach der Ermordung der Kaiserin war die Arme völlig durchgedreht und hatte sich mit der Geschichte wohl nur interessant machen wollen.
Eines Nachmittags, während Dorothea in der k.k. Hofzuckerbäckerei Demel auf Marie Luise wartete, kam ihr jedoch noch ein anderer Gedanke. Gustav hatte ihr unlängst den tschechischen Gärtner beschrieben. Der Frantischek sei ein gut aussehender Mann, groß, blond
Weitere Kostenlose Bücher