Die Tote
bedeutete. Charlotte verstand darunter nichts weiter als den kategorischen Imperativ, den ihr Vater ihr immer gepredigt hatte: Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu. Zugegeben, ein bisschen frei nach Kant – aber in etwa …
Sie hatte jedenfalls das Gefühl, dass viele Kinder und Jugendliche das ganz anders interpretierten: Was ich nicht will, das lässt du, und was du nicht willst, ist mir scheißegal. Und Dominic, der kleine Sonnenschein ihrer Freundin Miriam, war mit seinen knapp vier Jahren in den Startlöchern, genau dieselbe Karriere zu machen. Immerhin hatten sie in dem adretten Reihenhaus in Bemerode fast eine halbe Stunde ungestört reden können, bevor der Sonnenschein beschlossen hatte, mit seiner Triefnase und dem ganzen feuchten Gequengel drum herum die Aufmerksamkeit seiner Mutter für sich zu beanspruchen und deren lästige Freundin loszuwerden.
Charlotte hatte verstanden und sofort die Flucht ergriffen. Dann doch lieber den Stiefsohn ertragen. Der rannte wenigstens nicht mehr mit Rotz unter der Nase herum. Außerdem würde Rüdiger sie bereits händeringend erwarten. Er hatte zweimal versucht, sie zu erreichen, aber sie hatte seine Anrufe ignoriert. Sollte er sich doch um ihre Mutter kümmern. Er hatte im Moment sowieso keine sinnvolle Aufgabe.
Als sie um kurz nach neun die Wohnung betrat, war alles still. Sie schlich ins Wohnzimmer. Leer. Ebenso das Schlafzimmer und die Höhle ihres Stiefsohnes. Wo waren denn alle?
Charlotte beschloss, nun doch ihre Mailbox zu konsultieren. Aha, sie waren also in der Pizzeria La Perla auf der Lister Meile. Sie fragte sich, wie Bergheim mit seinen Krücken den Weg dahin bewältigt hatte. Musste wohl ein klaustrophobischer Anfall gewesen sein, der ihn zu diesem körperlichen Einsatz getrieben hatte. Auch gut, sie würde sich dann eben mit einem Butterbrot vor den Fernseher setzen.
Irgendetwas drückte gegen ihre Brust. Sie schnappte nach Luft, bevor sie die Augen aufschlug und in Bergheims vorwurfsvolles Gesicht schaute. Der Fuß seiner Krücke lag wie der Lauf einer Flinte auf ihrem Brustbein.
»Ausgeschlafen?«, fragte er, warf die Krücke auf den Boden und sich selbst neben Charlotte aufs Sofa. Die kam ruckartig hoch, dabei kullerte ihr Teller auf das Parkett.
»Meine Güte, wie spät ist es?« Charlotte rieb sich die Augen, während aus dem Fernseher eine aufgeregte Männerstimme etwas über »politische Blauäugigkeit« blökte.
»Kurz nach zehn«, antwortete Bergheim und schaltete den Fernseher aus.
»Und, wie war das Essen?«
»Wie immer. Wieso gehst du nicht ans Handy?«
Charlotte stand auf und sah sich fragend um. »Wo ist meine Mutter? Ist sie wieder weg?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Nein«, knurrte Bergheim, »ist sie nicht. Sie ist in die Küche geschlichen, wollte dich nicht stören.« Er nahm ihre Hand und zog Charlotte auf seinen Schoß. »Ich hatte eigentlich nicht vor, den Babysitter für meine Schwiegermutter zu spielen. Außerdem …«, er drückte ihr einen Kuss auf die Nase, »geht es ihr ziemlich schlecht. Ich finde, du solltest dich um sie kümmern. Ich kann ihr ja wohl nicht helfen.«
»Hat mein Vater sich gemeldet?«
»Ja, aber ich will nicht mit ihm sprechen.« Die Köpfe der beiden flogen zur Zimmertür, durch die Mutter Wiegand – in der einen Hand eine Teekanne, in der anderen eine Schale mit Erdnüssen – ins Zimmer schwebte.
»Nicht schon wieder essen«, raunte Bergheim, während Charlotte ihrer Mutter Kanne und Schale abnahm und beides auf den Couchtisch stellte.
»Ich hole nur schnell Tassen«, sagte Mutter Wiegand und war schon wieder auf dem Weg zur Küche.
Charlottes Protest, dass keiner Tee oder Nüsse wolle, ging einfach unter.
Zwei Minuten später saßen die drei am Tisch, tranken Tee und knabberten Nüsse.
»Mama, wie soll das jetzt weitergehen?«, fragte Charlotte, nahm einen Schluck von dem Tee und schüttelte sich. Fencheltee.
Ihre Mutter fuhr mit dem Finger über ihren Tassenrand und schluckte. »Entweder zieht dein Vater aus oder ich.«
Charlotte riss die Augen auf. »Aber, Mama, das meinst du doch nicht ernst!«
»Doch.« Mutter Wiegand nickte heftig.
Bergheim, der wie ein Fremdkörper neben Charlotte auf dem Sofa hing und sich sichtlich unwohl fühlte, stemmte sich aus den Polstern und wollte die beiden Frauen allein lassen. Sein Hintern hing bereits zehn Zentimeter in der Luft, als er sich wieder fallen ließ. Er wusste nicht, wohin.
Die beiden Frauen schienen
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