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Die Tote

Die Tote

Titel: Die Tote Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion
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als Charlotte ihren Ausweis vorgelegt hatte.
    Resigniert machte sie sich auf den Heimweg, obwohl sie am liebsten zur Direktion zurückgegangen wäre. Zu Hause warteten eine Menge Fragen auf sie. Fragen, auf die sie keine Antwort wusste. Was sollte sie ihrem Stiefsohn sagen? Dass sie im Auto seines Vaters das Haar einer unbekannten Frau gefunden hatten? Dass die Nachforschungen auf Hochtouren liefen? Dass sie Geduld haben mussten? Das konnte nicht darüber hinwegtrösten, dass Rüdiger noch immer verschwunden war. Und je länger die Suche dauerte, desto kälter wurde seine Spur.

ZEHN
    Um fünf Uhr am nächsten Morgen klingelte ihr Handy. Charlotte war sofort hellwach.
    »Was gibt’s?«, rief sie hinein, ohne einen Blick auf das Display zu werfen.
    Es war der Kriminaldauerdienst. »In der Babyklappe im Friederikenstift wurde heute Nacht ein Säugling abgelegt«, sagte der Beamte. »Er wurde versorgt und ist jetzt auf dem Weg zum Perinatalzentrum in Kirchrode.«
    »Gut, danke«, antwortete Charlotte und legte auf. Erschöpft sank sie wieder in die Kissen, ihr Herz schlug derart, dass sie Angst hatte, es würde ihr aus der Brust springen.
    »Beruhige dich«, flüsterte sie und atmete gleichmäßig und tief.
    »Ist was passiert?« Ihre Mutter stand in der Tür, aschfahl.
    »Nein, hat nichts mit Rüdiger zu tun, aber ich muss mich gleich auf den Weg machen.«
    Sie stand auf und ging ein paar Schritte, damit ihr Herz sich beruhigte.
    »Kind«, sagte ihre Mutter, »du musst dich noch ausruhen, das geht doch nicht.«
    Mittlerweile war auch ihr Vater aufgestanden und stand fragend in der Tür.
    »Ist schon gut«, wiegelte Charlotte ab. »Wie wär’s mit Kaffee?«
    Sie ließ sie ihre Eltern stehen und ging ins Bad. Sie wusste, sie meinten es gut, aber sie konnte und wollte jetzt mit niemandem reden.
    Eine Dreiviertelstunde später fuhr sie die Tiergartenstraße entlang. Obwohl es erst kurz vor sechs war, herrschte reger Betrieb auf den Straßen. Es war schon Anfang Juni, und der Sommer hatte Einzug gehalten. Die Sonne warf bereits zu dieser frühen Stunde ihre wärmenden Strahlen auf die Stadt. Charlotte liebte den Sommer. Dann stahlen sie und Rüdiger sich oft abends nach Dienstschluss eine Stunde und gingen im Maschsee baden. Manchmal holte Rüdiger ihre Räder aus dem Keller, und sie radelten durch die Eilenriede oder spazierten am Sonntagnachmittag durch die Gärten – wenn ihr Vater sie nicht vorher zu einem Besuch im Zoo überredet hatte. Sollte das jetzt alles vorbei sein? Nein, das würde sie erst glauben, wenn … Sie schüttelte sich und fuhr auf den Parkplatz des Zentrums. So darfst du nicht denken, ermahnte sie sich, das führt zu nichts. Bring lieber endlich Ordnung in dieses Chaos, und hör auf zu jammern!
    Sie fühlte sich etwas weniger schwach, fuhr in die Parklücke, putzte sich die Nase und stieg aus.
    Die Kinderärztin, Frau Neubauer, eine resolute, nicht mehr ganz junge Frau mit freundlichen Augen, empfing Charlotte auf der Säuglingsstation und führte sie einen langen, hellen Flur entlang zu einem Raum, der mit allerlei medizinischem Gerät vollgestopft war. Zumindest machte er auf Charlotte diesen Eindruck. Sie verstand nicht viel von Medizin und wollte das auch nicht ändern. Solche Apparaturen hatten ihr schon immer Angst gemacht. Das Auffälligste in dem Raum waren drei Glaskästen, die irgendwie an Aquarien erinnerten, nur dass keine Fische darin schwammen, sondern winzige Säuglinge darin lagen. An einem der drei Kästen blieb die Ärztin stehen.
    »Hier ist der kleine Junge. Er dürfte ungefähr vier bis sechs Wochen alt sein. Wir haben ihn Findus genannt.«
    Charlotte schaute fasziniert auf das winzige Wesen, das, nur mit einer Windel bekleidet, in dem Kasten selig schlummerte.
    »Ist er gesund?«, fragte sie, ohne den Blick von dem Kind abwenden zu können.
    »Wie man’s nimmt«, antwortete Frau Neubauer, »wir haben ihn erst mal unter die Sonne gelegt, wegen des Ikterus.«
    »Wegen was?«
    »Neugeborenen-Gelbsucht«, erklärte Frau Neubauer, »normalerweise verschwindet die Gelbfärbung der Haut nach ein paar Tagen von selbst. Da das bei dem Jungen nicht der Fall ist und aufgrund seiner ausgeprägten Apathie tippen wir auf eine angeborene Hypothyreose.«
    »Aha«, sagte Charlotte.
    »Das ist eine angeborene Schilddrüsenunterfunktion. Normalerweise wird diese Krankheit routinemäßig beim Neugeborenenscreening festgestellt. Anscheinend hat das bei dem Kind gar nicht stattgefunden. Wir haben

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