Die Tote
natürlich das Kindeswohl.«
Charlotte blickte versonnen vor sich hin.
»Das ist gut«, murmelte sie. Bremer blickte sie erstaunt an.
»Und was geschieht jetzt mit dem Baby?«
»Wenn die Mutter nicht mehr lebt und die Familie es nicht aufnehmen kann oder will, dann kommt es zunächst in eine unserer Pflegefamilien, bis wir passende Adoptiveltern gefunden haben.«
»Und die sind dann anonym?«
»Natürlich.« Frau Wilmers sah Charlotte fragend an. »Sie scheinen Vorbehalte gegen den Großvater zu haben.«
»Allerdings.«
»Wenn er ungeeignet ist, das Kind zu erziehen, entscheidet das Gericht und gibt das Kind zur Adoption frei.«
Charlotte lächelte zufrieden. Sie wechselten noch ein paar Worte, Frau Wilmers war so freundlich, sie bis nach draußen zu begleiten.
»Damit man wenigstens ein wenig von der Sonne mitbekommt«, sagte sie lachend. Vor der Tür stand Frau Meiler mit einer Kollegin und rauchte. Bremer wäre beinahe gestolpert.
Den Weg zu Frau Wildner in der Badenstedter Straße legte Bremer genauso bedächtig zurück wie die bisherigen. Doch Charlotte schien es nicht zu bemerken. Geistesabwesend sah sie aus dem Fenster.
Frau Wildner, die ihnen in einem abgewetzten Hausanzug öffnete, wurde kreidebleich, als sie die beiden Beamten sah. Charlotte hatte Angst, sie würde auf der Stelle in Ohnmacht fallen.
»Keine schlechten Nachrichten, Frau Wildner, keine Aufregung«, beeilte sie sich zu sagen, bevor hinter Frau Wildner eine resolute Frau in den Sechzigern auftauchte. Sie war schlank, die grauen Haare waren perfekt frisiert. Sie trug Jeans und eine schwarze Bluse.
»Haben Sie meine Enkelin gefunden?«, fragte sie mit fester Stimme, wenn auch mit bangem Blick.
»Nein, das nicht, aber …«, Charlotte zögerte, »dürfen wir reinkommen?«
Frau Wildner hatte die Hände vor den Mund geschlagen und ließ die beiden eintreten.
»Kommen Sie ins Wohnzimmer«, sagte die Oma, »möchten Sie etwas trinken?« Charlotte und Bremer lehnten ab und wollten sich auch nicht setzen.
»Frau Wildner«, begann Charlotte, »wir haben Grund zu der Annahme, dass Ihre Tochter weggelaufen ist, weil sie schwanger ist.«
Frau Wildner riss die Augen auf und ließ sich dann langsam in einen der beiden Sessel sinken.
Die Großmutter nahm den anderen. »Siehst du«, meinte sie, »ich hab dir immer gesagt, du sollst das Kind nicht behandeln wie eine Zehnjährige.«
Frau Wildner ignorierte ihre Mutter.
»Das glaub ich nicht«, hauchte sie.
Charlotte und Bremer schwiegen beide.
»Tja«, erklärte Charlotte dann, »anscheinend hat sie sich einer Freundin anvertraut und ihr gesagt, sie müsse eine Zeit lang verschwinden, weil sie schwanger sei. Und wenn alles erledigt sei, würde sie wiederkommen.«
»Gott sei Dank!«, schluchzte Mutter Wildner. »Dann lebt sie wenigstens.«
»Das hoffen wir zumindest«, antwortete Charlotte. »Sie hatten also keine Ahnung davon?«
Übereinstimmendes Kopfschütteln.
»Und Sie können sich nicht vorstellen, wer der Vater sein könnte?«
»Nein, absolut nicht.«
»Weiß denn die Freundin das nicht? Welche Freundin ist das überhaupt?« Frau Wildner schien sich langsam damit anzufreunden, dass sie ihre Tochter wohl doch nicht so gut kannte, wie sie geglaubt hatte.
»Das wissen wir nicht. Sie hat sich beim Jugendamt anonym gemeldet, weil sie Alina versprochen hatte, sie nicht zu verraten.«
Frau Wildner schien in sich zusammenzusacken. Dann fing sie an zu weinen. »Mein Gott, was machen wir denn jetzt?«
»Vielleicht würde ein Aufruf im Fernsehen helfen. Was halten Sie davon?«, schlug Charlotte vor.
»Was?« Frau Wildner sprang auf. »Was meinen Sie? Ich soll im Fernsehen auftreten?«
»Ja, Sie könnten einen Appell an Ihre Tochter richten. Vielleicht bekommt sie es mit. Und wenn sie keine Angst mehr hat, weil Sie ja Bescheid wissen, überlegt sie es sich vielleicht und kommt zurück.«
Frau Wildner blickte flehentlich zu ihrer Mutter. »Das … das kann ich nicht.«
»Natürlich kannst du!«, erwiderte die barsch. »Und du wirst auch.« Sie stand auf und blickte Charlotte an. »Sie macht das.«
»Gut, ich arrangiere das und melde mich bei Ihnen.«
Zum ersten Mal stahl sich ein Lächeln auf das Gesicht der Älteren. Sie führte die beiden Beamten zur Tür. »Ich danke Ihnen für Ihre Mühe«, sagte sie freundlich und ließ sie hinaus.
Charlotte schluckte und murmelte ein »Gern geschehen«. Sie kämpfte neuerdings immer mit den Tränen, wenn jemand ein freundliches Wort an sie
Weitere Kostenlose Bücher