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Die Tote

Die Tote

Titel: Die Tote Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion
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Zustand seiner Hände dachte er lieber gar nicht erst nach. Er lag auf seinem kargen Lager und überlegte. Seit mindestens vier Nächten waren sie hier gefangen, und er war wütend. Vor allem auf sich selbst, weil er immer noch keinen Ausweg gefunden hatte. Und weil er selbst nicht ganz unschuldig war an seiner Situation. Es war unfassbar, wie naiv er gewesen war.
    Er hatte geahnt, mit wem er es zu tun haben würde, war dennoch blind wie ein Maulwurf in die Falle getappt, und dann hatte sie zugeschnappt. Nun musste er damit leben. Es war überhaupt ein Wunder, dass er noch lebte. Was hatten die mit ihm vor? Und wieso kümmerte sich kein Mensch um sie? Die mussten sich sehr sicher sein, dass hier niemand rauskam, sonst hätte man sie doch bewachen lassen. Und wo befand sich dieser Keller überhaupt? Er hatte nicht die leiseste Ahnung.
    Es musste eine ziemlich einsame Gegend sein. Ein Wald, wahrscheinlich, wenn man von den Nadelbäumen ausging, die er vom Fenster aus sehen konnte. Aber wo? Waren sie im Harz? Im Schwarzwald? In der Eifel? Wenn er bloß nicht so weggetreten gewesen wäre. Zwar kam seine Erinnerung Stück für Stück zurück, aber wo man ihn hingebracht hatte und wie lange sie unterwegs gewesen waren, davon hatte er keinen Schimmer. Und immer wieder, wenn er die Gedanken an Charlotte und seinen Sohn nicht mehr verdrängen konnte, so wie jetzt, sprang er ungeachtet seiner nachlassenden Kräfte auf und hämmerte wie ein Verrückter auf den Beton am Fenster ein. Mehrmals war er knapp davor gewesen, die Nerven zu verlieren und zu schreien, aber er beherrschte sich, erstens, weil ihm sein Kopf so einen Anfall mit heftigen Schmerzen heimzahlen würde, und zweitens, weil er die Frau nicht noch mehr verängstigen wollte.
    Ja, die Frau. Das war auch so ein Mysterium. Nicht, dass Frauen für ihn nicht ohnehin ein Mysterium waren, aber diese hier … Wer war sie? Woher kam sie? Was hatte sie mit der ganzen Sache zu tun? Wie kam sie hierher? War sie schon vor ihm da gewesen oder zusammen mit ihm hierhergebracht worden? Und was war ihr zugestoßen? Warum redete sie nicht? Sie konnte reden, denn manchmal summte sie vor sich hin, und hin und wieder hatte sie im Schlaf gesprochen. Leider hatte er sie nicht verstanden, aber Deutsch war es seiner Meinung nach schon gewesen. Er hatte mehrfach versucht, sie zum Sprechen zu bringen, aber sie hatte sich sofort von ihm zurückgezogen und an ihren Fingerkuppen herumgebissen. Der Anblick war kaum zu ertragen. Sie kauerte in ihrem komischen Hemd hinter dem Saunaofen, in dem nur noch wenige Steine lagen, hatte sich dort aus den Decken in der Truhe eine Ecke eingerichtet und kaute an ihren Fingern herum. Manchmal auch an den Armen. Sie war hübsch, fand Bergheim. Auch, wenn davon im Moment nicht viel zu sehen war. Ihr dunkles langes Haar war verfilzt und bedeckte fast immer ihr Gesicht. Manchmal hatte er das Bedürfnis gehabt, sie in die Arme zu nehmen, aber er verbot es sich. Offensichtlich fühlte sie sich am sichersten, wenn er sie ignorierte.
    Er legte den Stein, der schon viel zu oft zerbrochen war, um ein wirkungsvoller Hammer zu sein, zur Seite und wickelte die beiden zerrissenen Laken von seinen Händen. Sie waren übersät mit blutigen Schrammen und sahen auch nicht besser aus als die der jungen Frau. Dann ging er in den Obstkeller. Drei Äpfel waren noch da und eine halbe Packung Zwieback. Die Frau aß wenig, sie teilte wohl ein. Er beschloss, das Abendbrot ausfallen zu lassen, trank ausgiebig aus dem Wasserhahn und ließ sich dann wieder erschöpft auf der Saunabank nieder.
    Wenn ihre Kidnapper wollten, dass sie überlebten, musste sich bald mal einer blicken lassen. Und wenn ihr Tod beschlossene Sache war … dann musste er sich verdammt noch mal endlich was einfallen lassen.
    * * *
    Charlotte ging an der Leine entlang durch die Grünanlagen. Normalerweise hätte sie diesen Spaziergang genossen, doch heute fehlte ihr dafür der Sinn. Jetzt ließ sie den Platz der Göttinger Sieben hinter sich und passierte den Landtag. Sie hatte keinen Blick für die eindrucksvollen Fachwerkhäuser am Holzmarkt, sondern schritt zügig die Burgstraße hinauf bis zum Marstall. Von hier aus waren es nur noch wenige Schritte bis zum Steintor. Das Laufen tat ihr gut. Es hielt ihre Gedanken im Zaum.
    Am Steintor tobte, wie immer, das Leben. Imbisse, die Falafel, Döner oder Currywurst mit Fritten feilboten, klemmten neben Kiosken, Spielhallen und Erotikshops. Diskotheken, Kinos und Bars

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