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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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geschlüpften Vögelchens.
    Sie fuhren um eine Kurve. Er konzentrierte sich auf das Asphaltband vor ihnen. Als sie vom Bauernhof auf die Straße eingebogen waren, hatte er die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen, denn plötzlich wusste er ganz genau, wo er war.
    »Ich muss nachdenken«, verkündete er und bog unvermittelt links ab.
    Eleanor Sachs hielt sich am Armaturenbrett fest, als der Wagen quer über die Straße driftete. Sie wurden langsamer und bogen auf die leere Schürze eines Parkplatzes. Sie sah sich um.
    »Wo sind wir hier?«, fragte sie.
    Pallioti sah auf. Hinter den getönten Scheiben des Renault erstreckte sich ein feuchtes Feld, das nach den Schneefällen in der Nacht zuvor mit weißen Flecken übersät war. In der Mitte erhob sich das Skelett einer Kirchenruine mit leeren Fenstern, über denen sich nackte Bögen dem bleiernen Himmel entgegenstreckten. Die Ruine sah noch genauso verloren und erhaben aus wie in seiner Erinnerung. Eine Schar Krähen stieg aus der eingefallenen Mauer eines Nebengebäudes auf, die Vögel kreisten in der Luft wie kleine Flugdrachen und landeten dann wieder. Er stellte den Motor ab.
    »San Galgano.«
    Eleanor sah ihn an. »San Galgano?«
    Pallioti nickte. »Erbaut im zwölften Jahrhundert, von denselben Mönchen, die auch Siena erbauten. Zisterzienser. Sie waren exzellente Buchhalter, nebenbei bemerkt. Um fünfzehnhundert wurde das Kloster wieder aufgegeben. Der Kirchturm war genau während einer Messe eingestürzt.«
    »Oh.«
    Eleanor beugte sich vor, die Hände aufs Armaturenbrett gestützt. »Ich habe schon davon gehört«, sagte sie. »Ich war nur noch nie hier.«
    Im grauen Licht des Novembertags schien das Gebäude in der Luft zu treiben, die eingesunkenen Mauern verschmolzen mit dem weißlichen Himmel, und das Auge des großen Rosettenfensters starrte blind durch die Jahrhunderte.
    »Galgano begegnete dem Erzengel Michael«, erläuterte Pallioti. »Auf dem Hügel dort drüben. Daraufhin gab er das Ritterleben auf und wurde zum Eremiten. Als seine Familie ihn aufsuchte und versuchte, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, rammte er sein Schwert in einen Fels und bot es den Erzengeln als Opfer dar.« Ihm war bewusst, dass Eleanor ihn beobachtete. Er drehte sich zu ihr um und lächelte. »Später«, erzählte er, »wollten es drei Räuber stehlen. Aber der Stein schrie auf, und ein Wolf stürzte herbei, der ihnen die Hände abriss. Man kann sie immer noch sehen«, sagte er. »Auf dem Hügel steht eine Kapelle. Der Fels und das Schwert stecken immer noch im Boden. Die Hände liegen in einer Vitrine.« Er öffnete die Fahrertür. »Ich muss ein paar Anrufe erledigen. Hinter der Kapelle gibt es ein Café. In zehn Minuten können wir uns dort auf einen Kaffee treffen.«
    Sie nickte wortlos und stieg aus. Gleich darauf sah Pallioti ihr über das Dach des Renault hinweg nach – einer kleinen dunklen Gestalt, die quer über ein nasses, verschneites Feld auf eine alte Ruine zustapfte.

    »Ich glaube nicht, dass das eine menschliche Hand ist«, sagte Eleanor Sachs. »Für mich sieht das eher aus wie eine Affenpfote. Und sie ist ganz bestimmt keine achthundert Jahre alt.« Sie blies auf ihren Kaffee.
    Pallioti lächelte. »Bestimmt glauben Sie auch nicht, dass Petrarcas Katze Petrarcas Katze ist.«
    »Ganz bestimmt nicht.« Sie verdrehte die Augen und griff nach dem Zuckerpäckchen. Von den beiden Frauen hinter der Theke abgesehen war niemand außer ihnen im Café. Es war kurz vor Mittag. Eleanor Sachs leerte den Zucker in ihren Kaffee und rührte ihn um. Dann sah sie ihn an. »Haben Sie Ihre Anrufe erledigt?«
    »Ja.«
    »Und«, fragte sie, »werden Sie mir erzählen, wer Lilia ist?«
    »Sie gehörte zu ihrer GAP-Einheit – die drei Männer wurden am Valentinstag 1944 nach einem Attentatsversuch vor dem Pergola-Theater verhaftet. Lilia wurde angeschossen, konnte aber entkommen.«
    »Und sie war die Frau, die der allmächtige Massimo nicht bekommen konnte?«
    Pallioti griff nach seiner Tasse und sah sie nachdenklich an. Die Kälte hatte ihre Wangen rosa getönt.
    »Genau«, sagte er. »Wenigstens glaube ich das.«
    Eleanor betrachtete ihn aufmerksam. »So viel wert wie zehn Männer. Sie muss eine ziemlich große Nummer gewesen sein.«
    »Ich glaube schon.«
    »Was wurde aus ihr?«
    »Sie ist gestorben.«
    »Das weiß ich.« Eleanor Sachs sah ihn eindringlich an. »Das habe ich Ihnen selbst erzählt. Ich meine davor, was wurde da aus ihr? Ist sie wichtig? Oder nicht?« Ihre

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