Die Toten des Meisters - Konrads erster Fall
Beine weg. Er landete unsanft auf seinem Hintern.
Verdammt, jetzt hast du einen Fehler gemacht, Konrad. Warum hatte ich mich dazu hinreißen lassen? Harmlose Nachbarn, die brav Kruzifixe schnitzen, entwaffnen keinen Messerstecher. Gut, harmlose Nachbarn, die brav an einem Kruzifix schnitzen, werden aber auch nicht von einem zwölfjährigen Messerstecher angegriffen.
„Thomas, hast du dir wehgetan? Entschuldige bitte, ich wollte wirklich nicht …“ Doch Thomas, noch auf dem Boden sitzend, unterbrach mich.
„Das war, das war …, wo hast du das gelernt? Kannst du mir das beibringen?“ Hätte ich gerade ein weißes Kaninchen aus meinem Wams gezaubert, ich hätte ohne Zweifel weniger Bewunderung geerntet. Thomas starrte mich immer noch mit o ffenem Mund an. Ich half ihm auf die Beine, bückte mich und hob sein Messer auf. Die Klinge war dünn, fast so lang wie meine Hand und, wie ich durch Schaben über den Daumennagel feststellte, so scharf, dass man sich damit hätte rasieren können. Nur dass dem Besitzer erst in gut drei Jahren der erste Bart wachsen würde. Von einem Jungenspielzeug war dieses Messer Welten entfernt, und die Geschwindigkeit, mit der Thomas die Waffe aus seiner Stiefelscheide gezogen hatte, ließ stundenlanges Üben vermuten.
Thomas wartete immer noch auf eine Antwort. Ich schaute ihn an. Eines war mir gerade klar geworden. Wenn man nicht bald etwas unternahm, dann würde dieser Junge – und sei es auch nur, um sich in einer Gasse zu wehren, irgendwann jemandem dieses Messer zwischen die Rippen stoßen. Vielleicht nicht morgen oder übermorgen, aber es würde passieren. Wie könnte ich das verhindern? Es musste einen Weg geben.
„Ja, also, das da eben, das hat mir mal ein Mitreisender auf einer Seereise gezeigt. Ic h hätte gar nicht gedacht, dass das so gut klappt. Wahrscheinlich was das gar kein ernsthafter Angriff.“ Ich sah ihm an, dass er mir kein Wort glaubte. „Schafscheiße , Konrad, das war das Schnellste, was ich je gesehen habe, und unten am Hafen gibt es oft Streitereien unter den Schiffern. Der Gerfried, das ist ein Freund vom Gregor, der Gerfried ist der Schnellst e mit dem Messer. Aber gegen dich ist er ein Greis.“ Die uneingeschränkte Bewunderung eines Zwölfjährigen. Dass er meine zugegeben fadenscheinige Erklärun g gerade „Schafscheiße“ genannt hatte, nagte an meinem Selbstvertrauen. Wenn schon Zwölfjährige mir nich t mehr glaubten … Ich sah Thomas in sein schmales Gesicht. Er musste die Augen seines Vaters geerbt haben, tiefbraun waren sie, und sie blickten ernst. Ernst wie sein ganze s Gesicht. Was ich zunächst für den Trotz eines Heranwachsenden gehalten hatte, war nichts anderes als der Ernst eines Menschen, der mehr als einmal enttäuscht worden war und gelernt hatte, sic h nur auf sich selbst zu verlassen. Al l dies blieb zunächst verborgen. Verborgen hinter einem dünnen Körper und hellbraunen Haaren, die nach dem Trockenreiben struppig aussahen. Ja, er war dünn, aber durchtrainiert. Sein Angrif f, die Schnelligkeit, mit der er zugestochen hatte, hätt e manchen gestandenen Söldner überrascht. Als wir uns s o gegenüberstanden, konnte ich seine neue Hochachtung mir gegenübe r förmlich mit den Händen greifen.
Du hast seine Bewunderung und Aufmerksamkeit. Los, Konrad, nutze sie, sagte ich mir . Was ich brauchte, war Zeit zum Nachdenken. „Pass auf, Thomas, ich muss heute mit dem Kreuz für Heinrich anfangen.“
Thomas konnte seine Enttäuschung nicht verbergen, also redete ich schnell weiter.
„Aber mo rgen früh habe ich Zeit – versprochen.“
„Wofür habt Ihr mo rgen früh Zeit?“ Johannas Frage ließ Thomas und mich zusammenzucken. Wir schauten gemeinsam zur Tür, Johanna stand im Rahmen, Haube und Wollumhang trieften vor Nässe.
„Ach, Ihr seid es! Thomas und ich haben vereinbart, dass ich ihm ein paar Dinge beibringen werde“, antwortete ich rasch und verba rg gleichzeitig mit einer schnellen Bewegung Thomas’ Messer in der Hand.
„ Wie ich sehe, hast du einen trockenen Platz gefunden, Junge. Komm, lass uns ins Haus gehen.“ Johanna schien unsere Verlegenheit nicht zu bemerken. Thomas blickte zu mir hoch. Ich nickte unmerklich mit dem Kopf. Ein stummes Versprechen, das er verstand. Er nahm seine Kleidung, die ich vor den Kaminofen gehängt hatte, und ging zu seiner Mutter hinüber. Auf halbem Weg drehte er sich noch einmal um:
„Und du bist morgen wirklich da?“, fragte er .
„Ich bin morgen wirklich hier, komm
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