Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
selbst.
Sie gingen schweigend durch den kühlen Herbstabend. Kaum war die Sonne untergegangen, wurde es merklich frischer. Nach dem Kalender begann der Winter erst in ein paar Monaten, aber die Kälte schien in diesem Jahr früher zu kommen. Sie bogen nach links ab und nahmen die Abkürzung über die Hügel zwischen den großen Hochhäusern. Melika wohnte mit ihrem Sohn am anderen Ende des weitläufigen Stadtteils Rinkeby, zu Fuß würden sie etwa eine Viertelstunde brauchen. Shibeka und Melika sahen einander nicht mehr so oft. Kurz nachdem ihre Männer verschwunden waren, hatten sie sich ständig getroffen, aber jetzt war es, als erinnerten sie sich gegenseitig zu sehr an den Verlust. Anfangs waren sie sich eine Stütze gewesen. Doch irgendwann hatten sie sich nur noch in endlose Diskussionen darüber verstrickt, was richtig war und was falsch. Melika hatte allerdings auch keinen Besuch von einem geheimnisvollen Unbekannten gehabt, sondern nur von einem uniformierten Polizisten. Und als Shibeka das Thema angesprochen hatte, waren sie in Streit geraten. Melika war der Meinung, dass Shibeka überall Konspirationen und merkwürdige Zusammenhänge witterte. Shibeka war der Meinung, dass Melika sich weigerte, die verschiedenen Möglichkeiten zu sehen, denen sie nachgehen mussten.
Sie hatten unterschiedlich auf den Verlust reagiert. Für Melika war das neue Land, in dem sie wohnte, an allem schuld, und sie zog sich immer mehr zurück und besann sich auf die Werte und Normen ihrer Heimat. Shibeka ging es genau umgekehrt. Sie wollte eine Antwort finden und wurde aktiv. Lernte besser Schwedisch, begann zu arbeiten, Briefe zu schreiben und bei den Behörden anzurufen. Sie wollte etwas in Erfahrung bringen, statt sich aus allem herauszuhalten. Dabei waren Melika und sie im Grunde gar nicht so unterschiedlich. Sie waren beide sehr unnachgiebig, und vielleicht führte genau das immer zu Konflikten zwischen ihnen. Sie hatten verschiedene Wege gewählt, die sie kompromisslos verteidigten. Zu kompromisslos, dachte Shibeka mitunter.
Als sie sich nach einer Weile dem blaugrauen Hochhaus näherten, in dem Melika wohnte, bekam sie Magendrücken. Würde es wirklich gutgehen? Konnte sie Mehran nicht bitten, draußen zu warten? Das wäre am einfachsten. Sie blieben vor der Tür stehen. Mehran drehte sich um und schaute sie an. Er deutete auf einige verlassene Schaukeln auf dem kleinen Spielplatz links vom Haus.
«Hier habe ich mit Papa geschaukelt, kurz bevor er verschwand.»
«Ich weiß.»
«Deshalb bin ich fast nie hier.»
Shibeka nickte. Dann sah sie zu dem Haus empor. In den meisten Fenstern brannte Licht.
«Es wird ihr nicht gefallen», sagte er dann, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
«Ich weiß.»
«Sie will es vergessen. Genau wie wir anderen», ergänzte Mehran vorsichtig und sah mit einem Mal niedergeschlagen aus.
«Mehran. Sie will es nicht vergessen. Sie will, dass sich ihr Leben wieder normal anfühlt. Das will ich auch. Wir haben nur ganz unterschiedliche Wege gewählt, um das zu erreichen.»
Mehran nahm ihre Hand und sah sie an. In seinen schönen, dunklen Augen lag eine Traurigkeit, die sie nie zuvor gesehen hatte.
«Aber es kann nie wieder normal werden, Mama.»
Sie nickte. «Du bist ein kluger Mensch, Mehran. Ich werde immer auf dich hören. Das verspreche ich dir.»
Plötzlich umarmte er sie. Es war ein schönes Gefühl. Sie hatte schon den ganzen Abend ihre Arme um ihn legen wollen. Und daran, wie er sie an sich drückte, merkte sie, dass es ihm genauso ergangen war.
Jetzt waren sie zu zweit.
Sie und ihr ältester Sohn.
Hamid lebte in ihm weiter.
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B illy saß auf der Terrasse vor der Fjäll-Station. Neben dem nächstgelegenen Berg hing ein großer, weißgelber Vollmond und warf einen kalten Schein auf den Fluss und den knorrigen, lichten Birkenwald. Abgesehen vom Rauschen des Wassers war ab und zu das Kreischen eines Greifvogels zu hören. Sonst nichts. Billy genoss die Stille und die kalte Luft. Seit er hinausgegangen war, hatte er nicht mehr auf das Thermometer gesehen. Aber es konnte nur wenig über null stehen, wenn überhaupt. Es störte ihn nicht, er war dick angezogen. Ursprünglich war er nur hergekommen, um My anzurufen. Nicht weil der Empfang besser war, sondern weil es ein schönes Gefühl war, ungestört hin- und herzugehen, während er mit ihr redete.
Das Gespräch hatte etwa eine Viertelstunde gedauert. Er hatte so viel über die Ermittlung erzählt, wie er
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