Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
auf einem sehr schwachen Fundament ruhte, auf Mutmaßungen, die er nicht verifizieren konnte. Der Gedanke hatte sich jedoch festgebissen. Wenn es so war, konnte Billy eines ziemlich sicher sagen: dass nur Sebastian es wusste. Wenn Vanja es wüsste, hätte man es ihr angemerkt. Sie vergötterte ihren Vater. Oder denjenigen, von dem sie glaubte, er wäre ihr Vater …
«Du hast Edward Hinde erschossen.»
Billy wurde jäh in die mondbeschienene Wirklichkeit zurückgeholt. Er drehte sich zu Jennifer um, konnte ihr Gesicht jedoch kaum erkennen. Sie hatte die Kapuze ihrer Jacke aufgesetzt, hielt ihre Teetasse vor den Mund und sprach über den Rand hinweg.
«Was? Ja.»
«Ich nehme an, dass du das ständig gefragt wirst, aber … was war das für ein Gefühl?»
Es war das Erste, woran sie gedacht hatte, als sie Billy in Arlanda begegnete und begriff, wer er war. Sie selbst hatte noch nie ihre Waffe gezogen, es sich vor ihrem inneren Auge aber schon oft vorgestellt.
Schnelle Entscheidungen. Jagd und Spannung.
Doch immer, wenn sie über diesen Bereich ihres Berufs phantasierte, endete es damit, dass die Schurken aufgaben. Dass sie sich überwältigt, besiegt, geschlagen fühlten. Ihre Tagträume mündeten nie darin, dass sie einen Schuss abgab. Und schon gar nicht darin, dass sie tatsächlich jemanden tötete. In manchen Augenblicken fragte sie sich, ob sie es überhaupt könnte, wenn sie gezwungen wäre.
Sie wandte sich Billy zu, der immer noch schweigend dasaß. Sie versuchte zu erkennen, ob er sich die Frage zu Herzen nahm oder nur über eine Antwort nachdachte. Wahrscheinlich Ersteres. Schließlich merkte sie ja selbst, wie die Frage klang: «Was war das für ein Gefühl?»
Wie bescheuert, sie klang wie eine Sportreporterin.
«So habe ich das nicht gemeint», erklärte sie, «ich meinte eher, wie kommt man damit zurecht? Wie hast du das verwunden?»
Billy überlegte. Er hatte keine vorgefertigte Antwort parat, denn soweit er sich erinnerte, hatte ihn noch nie jemand danach gefragt. Keiner aus dem Team, nicht einmal Torkel. Man hatte sich nach seinem Befinden erkundigt, das schon, ihm beteuert, dass er sicher bald wieder arbeiten dürfe, dass er nichts anderes hätte tun können, dass er keine Wahl gehabt hätte. Aber niemand hatte ihn gefragt, wie er sich fühlte. Nicht ernsthaft. Nicht über das übliche «Wie geht’s?» und «Alles okay?» hinaus. Und in einem Ton gesagt, der deutlich signalisierte, dass man keine tiefgehende – ja vielleicht nicht einmal eine ehrliche – Antwort erwartete. Obwohl sie alle dafür ausgebildet waren, mit unter Schock stehenden und traumatisierten Menschen umzugehen, war es, als glaubten plötzlich alle, es wäre am besten, gar nicht darüber zu sprechen, wenn einer von ihnen selbst betroffen war. Dafür hatten sie schließlich den Psychologen. My hatte eigentlich auch nicht gefragt, wenn er näher darüber nachdachte. Sie hatten viel darüber gesprochen, aber es war mehr darum gegangen, wie man diese Erfahrung nutzen konnte, um daran zu wachsen, anstatt auf destruktive Weise seine Berufswahl oder gar seine eigene Person in Frage zu stellen.
«Er hätte Vanja getötet», sagte Billy achselzuckend. «Deshalb komme ich damit zurecht. Sebastian war verletzt, und Hinde hätte Vanja umgebracht. Mir blieb keine Wahl.»
«Nur weil es richtig war, muss es ja nicht einfach sein.»
Billy drehte sich zu ihr um. Er hatte gerade gesagt, dass er keine andere Wahl gehabt hatte. Die meisten hätten sich damit zufriedengegeben. Er hatte das Einzige getan, was er tun konnte. Wenn man keine Wahl hatte, war man auch nicht richtig verantwortlich. Aber das schien Jennifer nicht auszureichen. In ihren Augen las er aufrichtige Anteilnahme, echtes Interesse. Sie verdiente eine bessere Antwort.
«Ich denke nicht daran», erklärte er schließlich ehrlich. «Ich denke nie daran.»
«Ist das denn gut? Nicht daran zu denken?»
«Ich weiß es nicht. Aber es funktioniert.»
Billy betrachtete wieder den Mond. Offensichtlich war Jennifer jetzt zufrieden. Sie fragte nicht weiter, trank den Tee aus und stellte die Tasse aufs Tablett. Seine letzten beiden Antworten hatten ihr anscheinend deutlich gemacht, dass er nicht darüber reden wollte. Dabei wollte er es. Eigentlich. Er mochte Jennifer. Sie schien mehr wissen zu wollen, jenseits von Sensationen und Gewalt. Sie schien etwas über ihn wissen zu wollen. Und das wollten bei weitem nicht alle. Vielleicht war es dumm, diese Chance nicht zu
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