Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
Fassung zu verlieren. Damit hätte sie auf keinen Fall gerechnet. Sie hatte fast schon vergessen, dass der Junge neben ihr saß. Mehran wirkte dagegen völlig ungerührt. Er fuhr fort, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan als zu lügen.
«Er scheint ein vernünftiger Typ zu sein», fügte er ruhig mit seiner neuen Stimme hinzu, mit der er seit heute Nachmittag sprach. Vielleicht trug er sie schon lange in sich, und Shibeka bekam sie erst jetzt zu hören. Sie wirkte einfach zu selbstverständlich, um vollkommen neu zu sein. Vielleicht hatte sie in ihm geschlummert und nur auf den Moment gewartet, in dem sie gebraucht wurde.
Shibeka saß schweigend neben ihm, sie war von ihrem Sohn beeindruckt, fühlte sich aber auch unter Druck gesetzt. Sie musste irgendetwas sagen, damit Mehrans Lüge nicht aufflog, aber sie hatte Schwierigkeiten, sich in der neuen Welt zurechtzufinden, die Mehran plötzlich um sie beide herum aufbaute. Er wiederum schien sich in seiner neuen Rolle sehr wohl zu fühlen.
«Er möchte dich auch treffen. Mama und ich hoffen wirklich, dass du damit einverstanden bist.»
Melika war verstummt und sah sie beide an. Endlich wagte Shibeka, ihren Mund wieder zu öffnen. Sie nahm sich ein Vorbild an der Ruhe ihres Sohns.
«Melika, ich weiß, dass du der Meinung bist, ich hätte viele Fehler gemacht. Aber diesmal glaube ich wirklich, dass es das Richtige ist.»
Melika sah noch immer skeptisch aus, aber immerhin setzte sie sich wieder. Auch auf sie schien Mehrans Souveränität eine beruhigende Wirkung zu haben.
«Das kann ich nicht. Wenn es eine Frau wäre, dann ja. Aber einen Mann werde ich nicht treffen. Aus Respekt vor Said.»
«Das verstehe ich», sagte Shibeka. «Ich rede mit Lennart Stridh …»
« Ich rede mit ihm», korrigierte Mehran seine Mutter sofort. «Aber da wird sich schon eine Lösung finden.»
Melika nickte. Mehran lächelte sie vertrauensvoll an.
«Danke, Melika», sagte Shibeka.
«Du kannst dich bei deinem Sohn bedanken», erwiderte sie.
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S ebastian hatte Essen bei dem italienischen Restaurant unten an der Ecke bestellt. Er hatte darauf bestanden, dass Vanja etwas zu sich nahm, und in der Küche den Tisch gedeckt. Die Teller hatten eine hübsche Elfenbeinfarbe und ein feines Silberdekor, das Besteck lag schwer und exklusiv in der Hand, und zusammen mit den hohen Kristallgläsern und dem duftenden Essen sah das Arrangement so einladend aus, dass Vanja ohne zu protestieren blieb. Draußen war es inzwischen dunkel geworden, und Sebastian zündete einige Kerzen an. Sie aßen mit gutem Appetit und sprachen leise und vertraut miteinander. Für einen Außenstehenden hätten sie wie zwei alte Freunde ausgesehen, die eines von vielen gemeinsamen Abendessen bei ihm zu Hause einnahmen. Obwohl es das erste war. Nach allem, was geschehen war, fand Vanja das sehr befreiend. Als hätte sie plötzlich Gesellschaft unter der Glasglocke, unter der sie, seit ihr Vater in Untersuchungshaft saß, völlig allein gewesen war. Am liebsten würde sie nie wieder weggehen. Um jeden Preis in der Küche in der Grev Magnigatan bleiben, mit diesem Mann, der auf einmal ungeahnte Qualitäten an den Tag legte. Die schonungslose Ehrlichkeit, die er gezeigt hatte, als er von der schrecklichen Tragödie erzählt hatte. Seine Gastfreundlichkeit. Die Art und Weise, wie er ihr zuhörte.
Es war, als gäbe es zwei Versionen von Sebastian, die eine mit dem großen Ego, das rücksichtslos auf allen Menschen in seiner Nähe herumtrampelte – und dann dieser ehrliche Mann, der seine ganze Familie verloren hatte, aber trotz allem kämpfte. Sie schämte sich ein bisschen. Teils, weil sie so sehr im eigenen Selbstmitleid versunken war und sich in ihrer eigenen Verbitterung gesuhlt hatte, teils, weil sie Sebastian nie auch nur die Gelegenheit gegeben hatte, diese andere Seite von sich zu zeigen. Er zeigte ihr eine neue Perspektive. Sie hatte keine Ahnung, wie es war, jemanden wirklich zu verlieren. Valdemars Verrat an ihr ließ sich trotz allem bewältigen. Immerhin war er nicht gestorben. Und sie konnte ihren Lebensweg weitergehen, ob mit ihm oder ohne ihn, das durfte sie selbst entscheiden. Jedenfalls war sie nicht ganz allein.
Vanja blickte auf ihren Teller. Die Pasta Frutti di Mare schmeckte himmlisch gut, ohne den gefährlichen Drang in ihr auszulösen. Es war Essen, nichts sonst, ohne psychologischen Zusammenhang. Nur Essen. Gutes Essen.
Ob sie Sebastian von ihrer Bulimie erzählen
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