Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
Stimme würde er sofort identifizieren, davon war er überzeugt. Das war nicht Joseph, der da vor ihm stand.
«Ich suche Joseph», sagte er und verlieh seinen Worten so viel Nachdruck, wie er nur konnte.
Der Mann musterte ihn. Mehran war sich unsicher, was dieser Blick zu bedeuten hatte.
«Joseph? Der wohnt hier nicht mehr. Er ist schon lange weggezogen. Und wer bist du, wenn ich fragen darf?»
«Ich heiße Mehran. Mehran Khan. Ich bin Hamids Sohn.»
«Ich kenne keinen Hamid.»
«Aber Joseph kannte ihn. Wissen Sie, wo er jetzt wohnt?»
Der Mann lachte auf und entblößte eine Reihe schiefer, gelber Zähne.
«Nein, aber wenn du ihn siehst, kannst du ihn schön von mir grüßen. Er schuldet mir noch Geld. Er hatte weder seine Strom- noch seine Wasserrechnung bezahlt, als ich die Wohnung übernommen habe.»
Mehran konnte nicht mehr antworten, denn der Mann hatte ihm bereits die Tür vor der Nase zugeschlagen. Er blieb noch eine Weile stehen, ehe er die wenigen Treppenstufen wieder hinunterstieg, unschlüssig, was er tun sollte.
In der Wohnung stand der Mann mit den gelben Zähnen regungslos hinter der Tür und blickte durch den kleinen Spion. Er betrachtete eingehend den Rücken des Jungen. Sah, wie er schließlich die Treppen hinunterging.
Aus dem Wohnzimmer war eine Stimme zu hören, die arabisch sprach. Sie klang wie ein knarrendes Zischen.
«Wer war das?»
«Ich glaube, es gibt ein Problem», antwortete der Mann.
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V anja verließ den Aufzug im Erdgeschoss, ging den Flur nach links entlang, bog anschließend rechts ab und betrat die Personalkantine durch die geöffneten Glastüren. Auf der rechten Seite befand sich der Selbstbedienungsbereich, vier große Vitrinen mit verschiedenen Angeboten. Fleisch, Fisch, vegetarische Mahlzeiten und Salate. Hinter der Kasse, an der die Leute in zwei Schlangen anstanden, wurden an einem langen Tresen Getränke, Brot und Gewürze angeboten. Im Saal selbst standen etwa vierzig Tische, auf allen lagen weiße Wachstuchdecken mit Preiselbeerranken. An den größten Tischen fanden sechzehn Menschen Platz, an den kleinsten vier. Es war viel los, und über dem Raum hing eine konstante Lärmkulisse, Geschirrgeklapper, Besteck- und Gläserklirren.
Vanja hielt abrupt inne, als sie sah, wer gerade sein Essen bezahlte und auf einen der Tische zusteuerte. Håkan Persson Riddarstolpe. Vanja folgte ihm mit dem Blick, überlegte kurz, ob sie ihn einholen und fragen sollte, was passiert war. Was sie eigentlich falsch gemacht hatte. Irgendwann musste sie es erfahren, sie konnte diese Angelegenheit nicht einfach auf sich beruhen und ihre Fragen unbeantwortet lassen. Aber war dies der richtige Ort, die passende Gelegenheit? Warum nicht?, dachte sie und folgte Håkan.
Dann entdeckte sie Sebastian, der an einem Tisch neben dem Fenster saß. Riddarstolpe würde gleich an ihm vorübergehen, und Sebastian hob den Kopf und sah seinen Psychologenkollegen an. Vanja verlangsamte ihren Schritt, um zu sehen, ob Sebastian etwas sagen oder tun würde. Es hätte ihr ausgezeichnet gepasst, wenn Sebastian Persson Riddarstolpe vor der versammelten Kantine ausschimpfen und für inkompetent erklären würde. Riddarstolpe näherte sich. Sebastian sah ihn noch immer an. Bald würde er an seinem Tisch vorbeigehen. Sollte er in irgendeiner Weise auf den Kollegen reagieren, musste er es jetzt tun. Und er tat es auch. Allerdings anders, als Vanja es erwartet hätte.
Sebastian schloss für eine Sekunde die Augen und nickte.
Ein Nicken?
Vanja traute ihren Augen nicht.
Ein Nicken, und zwar nicht wie ein Gruß, sondern eher wie eine Bestätigung, eine schweigende Übereinkunft.
Verrückt.
Sie musste verrückt sein.
Sebastian mochte Riddarstolpe nicht. Er hasste ihn. Schon möglich, dass er ihm keine Szene machen wollte, aber ein Nicken? War es vielleicht ein bedächtiges, höfliches Nicken gewesen? Womöglich sogar eine abschätzige Geste? Hatte sie die Szene falsch interpretiert? Nein, sie wusste, was sie gesehen hatte. Es war ein zufriedenes Nicken mit geschlossenen Augen, eine Geste, um jemandem zu bestätigen, dass man zu schätzen wusste, was er getan hatte.
Aber es war verrückt.
Was konnte Riddarstolpe zu Sebastians Zufriedenheit getan haben? Nichts. Wenn überhaupt, dürfte Sebastian ihn nach den Ereignissen der letzten Zeit noch viel weniger ausstehen können. Müsste ihn ignorieren. Ihn verächtlich anstarren. Ihm gegenüber übertrieben arrogant auftreten.
Alles, nur
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