Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
vorletzten Station aussteigen, die Södertälje hamn hieß.
Dort würde Joseph auf ihn warten.
Mehran sollte ihn anrufen, wenn er in Östertälje war. Er konnte nur schwer still sitzen, immer wieder stand er auf und schaute auf den blau-weißen Linienplan, der alle Stationen des Vorortzugs anzeigte. Er wollte sich beruhigen. Noch sieben Stationen. Noch sechs. Nach jedem Halt ging er wieder dorthin. Als würde sich die Zahl der Bahnhöfe plötzlich ändern, während er im Zug saß. Das Metall in seiner Hosentasche fühlte sich ganz warm an, obwohl es kalt sein müsste. Levan hatte sie ihm besorgt. Eine aufgebohrte Startpistole, die mit ihrem schmalen Lauf und ihrer kupferroten Farbe etwas albern aussah, aber Levans Kumpel hatte versprochen, dass sie funktionierte. Man müsse nur zielen und abdrücken, hatte er gesagt. Sechs Schuss. Er hatte auf etwas Besseres gehofft, aber Levan, der immer groß damit prahlte, wen er alles kannte, hatte nichts anderes besorgen können. Jedenfalls nicht innerhalb so kurzer Zeit. Mehran hatte dagegen überhaupt keine Ahnung, wie man eine Waffe organisierte, und war froh, dass er überhaupt eine bekommen hatte.
Er hatte sie am Sergels Torg abgeholt. Levan hatte für ihn bürgen müssen und war sofort dorthin gekommen, als Mehran ihn anrief. Sie kostete tausendfünfhundert Kronen, sagte der Typ, der sie verkaufte. Mehran war es schließlich gelungen, sie gegen das neue Handy einzutauschen, das seine Mutter gekauft hatte und das er zufällig dabeihatte. Levan musste ihm jedoch zweihundert Kronen für die Patronen leihen. Es ärgerte Mehran, dass er sie separat zahlen sollte. Aber Levan und der Typ behaupteten, so liefe das nun mal. Die Pistole sei wie ein Auto, und die Patronen seien der Brennstoff, sagten sie. Zwei ganz unterschiedliche Dinge. Mehran begriff, dass man ihn übers Ohr haute, aber ihm blieb keine andere Wahl. Er konnte den Mann, der vielleicht hinter dem Verschwinden seines Vaters steckte, einfach nicht unbewaffnet treffen. Keine Chance. Wenn jemand überrascht werden sollte, dann Joseph, nicht er.
Er fingerte an der Pistole herum. Sie fühlte sich zwar warm an, aber überhaupt nicht so vertrauenerweckend, wie er gehofft hatte. Er sah sich im Waggon um, weil er den Eindruck hatte, dass ihn alle anstarrten. Wahrscheinlich lag es daran, dass er nach jeder Station zum Linienplan ging, aber gleichzeitig wurde er das Gefühl nicht los, alle könnten sehen, dass er bewaffnet war. Dass er hier nichts zu suchen hatte. Dass er dabei war, einen schweren Fehler zu begehen.
Plötzlich klingelte sein Handy. Das Geräusch ließ ihn zusammenzucken, und er begann nervös, danach zu suchen. Eigentlich wollte er nicht rangehen, aber vielleicht war es Joseph. Er fand das Handy nicht und bildete sich ein, er hätte es in dieselbe Hosentasche gesteckt wie die Pistole. Das war vollkommen idiotisch. Was, wenn er die Pistole aus Versehen mit herauszog? Vielleicht würde sie vor aller Augen auf den Boden fallen, und der Verdacht der Leute würde bestätigt werden. Fieberhaft tastete er in der engen Tasche nach dem Telefon. Die Pistole, die so klein ausgesehen hatte, war plötzlich groß und immerzu im Weg. Dann begriff er, dass das Telefon gar nicht zusammen mit dem warmen Metall in seiner Hosentasche lag. Das Klingeln kam auch nicht von dort. Schließlich fand er das Handy in der Jackentasche. Dort, wo er es immer hatte. Eigentlich ganz logisch. Er zog es heraus, doch im selben Moment hörte das Klingeln auf.
Er atmete einige Male tief durch, um sich zu beruhigen. Versuchte, die Fassung wiederzuerlangen, ehe er auf das Display schaute und die Nummer sah, die ihn gerade angerufen hatte.
Es war nicht Joseph gewesen, sondern seine Mutter.
Mit ihr wollte er jetzt nicht sprechen. Wirklich nicht. Er wollte nicht einmal an sie denken. Das würde seine Entschlossenheit womöglich ins Wanken bringen. Aber sie wollte mit ihm sprechen. Es klingelte erneut. Und sie würde nicht aufgeben, ehe er nicht ranging. Er kannte sie.
Sie klang glücklich und eifrig. Das kam ihm völlig falsch vor. Wie konnte sie bloß glücklich sein?
«Mehran? Wo bist du?»
«In der Stadt unterwegs.»
«Hör mal zu. Die Polizei war hier. Sie glauben mir.»
Mehran begriff nichts. Was sagte sie da?
«Wie – die Polizei?»
«Sie waren hier. Du musst nach Hause kommen.»
Er hatte richtig gehört. Obwohl er nicht verstand, wie es möglich war.
«Ich kann jetzt nicht, Mama.»
«Du musst, Mehran. Verstehst du nicht. Drei
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