Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)

Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)

Titel: Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hjorth , Hans Rosenfeldt
Vom Netzwerk:
konnte, noch gewesen war, dass sich jemand bei einer Übung verletzte.
    Er wurde schneller. Hörte, wie der Junge schrie. Er schien sich verletzt zu haben und würde mit Sicherheit noch dort liegen, wenn Charles ankam. Aber er konnte sich nicht sicher sein. Dieser Bengel schien ziemlich zäh zu sein. Vermutlich genauso zäh wie sein Vater.

    Es war ein Gefühl, als läge er bereits in einem Grab. Die rauen Zementwände, auf denen Moos wuchs, bildeten ein Rechteck, und hoch oben am schwarzen Himmel hatten sich einzelne Sterne hervorgewagt. Mehran spürte den Schatten des Mannes förmlich auf sich fallen, als er lautlos über den Rand des Bunkers kletterte. Er war nur eine Silhouette, ein dunklerer Teil der Dunkelheit, der dort oben stand und auf ihn hinabblickte. Er hielt die Pistole in der Hand. Mehran sah, wie er sie langsam hob.
    Aber er musste dennoch die Wahrheit herausfinden. Vielleicht nicht alle Details, aber das Wesentliche. Der Tod seines Vaters hing mit Dingen zusammen, die er überhaupt nicht verstand. Aber es gab einen Zusammenhang. Das Unerklärliche war schon die ganze Zeit logisch gewesen, sie hatten nur nicht alle Puzzleteile gekannt. Das Wichtigste wusste er jetzt jedenfalls. Sein Vater war gestorben, aus irgendeinem Grund ermordet worden. Er hatte die Familie nicht freiwillig verlassen. Er hatte nicht aufgehört, sie zu lieben, und war nicht einfach verschwunden.
    Mehran war beinahe zufrieden. Der Tod war etwas Merkwürdiges, dachte er. Man glaubte, dass man nur Angst vor ihm haben würde. Aber stattdessen brachte er das Wissen darüber mit sich, wie die Dinge eigentlich waren.
    Für seine Mutter würde es am schwersten sein. Sie würde sich unendlich schuldig fühlen. Eigentlich hatte er es am leichtesten. Das war wohl die zweite Wahrheit. Zurückgelassen zu werden war am schwersten. Das wusste er auch.
    Er würde früher in die Fußstapfen seines Vaters treten, als er gehofft hatte. Sie würden sich bald wiedersehen, er und Hamid. Und das wollte er, und doch auch nicht. Aber er hatte keine Wahl mehr.
    Er hatte jedoch nicht vor, weinend zu sterben. Diese Genugtuung wollte er dem Mann nicht gönnen. Doch sosehr er auch versuchte, seine Tränen zurückzuhalten, es ging nicht. Er schluchzte. Es war die Angst, die ihn schüttelte. Gleichzeitig schämte er sich nicht. Mut war eben wirklich, wenn man handelte, obwohl man Angst hatte.
    «Was ist mit meinem Vater passiert?», schrie er in die Dunkelheit hinaus. Der Mann antwortete nicht.
    Er wollte nicht.
    Konnte nicht.
    Charles sah den Jungen dort unten in der Grube zwischen Steinen und Ästen liegen. Er schien sich das Bein gebrochen zu haben, und trotzdem gab er nicht auf. Noch nicht. Der Junge weinte, aber er starrte Charles dennoch feindselig an. Stärke. Das beeindruckte ihn immer. Er war noch so jung, eigentlich nur ein Kind. Dennoch zeigte er einen solchen Kampfgeist.
    Charles richtete die Pistole auf ihn, doch plötzlich begann er zu zögern. Musste er jetzt wirklich ein Kind töten? War es so weit gekommen?
    Der Junge dort unten war sechs Jahre alt gewesen, als sein Vater verschwand. Simon war auch sechs gewesen, als er starb. Hatte Patricia Wellton gezögert, als sie ihn erschoss? Vermutlich nicht. Profis wie sie zögerten nie.
    Er war auch ein Profi, und dennoch zauderte er. Eigentlich war er kein normaler Mörder. Er versuchte lediglich, Türen zu schließen. Geheimnisse zu bewahren.
    Der Junge fragte noch einmal nach seinem Vater. Eigentlich verdiente er, es zu erfahren.
    «Er ist tot. Leider. Aber das wusstest du schon.»
    Der Junge nickte. Starrte ihn noch feindseliger an.
    Es könnte genauso gut Simon sein, der dort unten lag, dachte Charles. Er wäre heute ungefähr im selben Alter wie der Junge am Boden des Bunkers. Fünfzehn. Fast sechzehn. Simon hatte im November Geburtstag gehabt. Am 18. November. Wann dieser Junge wohl Geburtstag hatte?
    Vielleicht, dachte er plötzlich, war es kein Zufall, dass sie im selben Alter waren. Vielleicht ging es in Wirklichkeit darum: die Konsequenzen des eigenen Handelns zu erkennen. Einzusehen, dass man irgendwann nicht ständig noch mehr Türen schließen konnte.
    Der Preis war zu hoch.
    Plötzlich hörte er einen Helikopter, der sich schnell näherte. Er erkannte ihn am Geräusch. Es war ein Eurocopter EC135, ein Polizeihubschrauber. Innerhalb von zwei Minuten wäre er über ihm.
    Es war wirklich vorbei. Sie würden ihn fassen. Was machte es da für einen Unterschied, ob der Junge tot oder lebendig

Weitere Kostenlose Bücher