Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
schlimmer war: Der Mann wusste, wer er war.
«Mehran, komm heraus!», rief er so laut, dass es über das Feld hallte. «Ich bin von der Polizei!»
Mehran drückte sich wieder in den Graben. Machte sich so klein, wie es nur ging.
«Komm raus, Mehran. Ich will dir helfen!», rief der Mann weiter.
Mehrans Gedanken überschlugen sich. Er verstand gar nichts. Wieso wusste der Mann, wer er war? War es das, was Shibeka gemeint hatte, als sie über die Polizei sprach? Dass sie kommen würde, um ihm zu helfen? Aber wie hätte sie ihn hier finden sollen? Auf einem Feld, dessen Lage er selbst nicht kannte.
Das konnte nicht stimmen.
Es war unmöglich.
Und außerdem, warum sollte ein Polizist Joseph mit zwei Schüssen töten?
Er koch weiter. Versuchte, sich mehr mit den Beinen abzustoßen, um kraftvoller voranzukommen. Es war unerhört anstrengend. Der Matsch gab unter ihm nach, er rutschte weg. Sein ganzer Körper tat weh, und in seinem Kopf pochte der Schmerz. Der Mann rief weiter nach ihm. Er kam beständig näher. Mehran versuchte, die Stimme zu ignorieren, sie aus seinem Bewusstsein auszublenden. Sie nur als Abstandsmesser zu dem Mann wahrzunehmen. Um zu wissen, wo sich sein Verfolger befand. Nichts anderes.
Mehran bewegte sich weiter voran, doch es fiel ihm immer schwerer. Er hatte sich noch nicht wieder von dem Schlag und den Tritten erholt, die Joseph ihm verpasst hatte, er fühlte sich schwach, und ihm war übel und schwindelig. Aber er durfte nicht aufgeben. Er musste die Kraft finden. Das Adrenalin. Das, was die Menschen überleben ließ.
Plötzlich hörte er, dass die Rufe des Mannes leiser wurden, sich von ihm entfernten. Das gab ihm neue Energie. Er mühte sich weiter voran. Krabbelte, kroch, benutzte Finger und Nägel, um vorwärtszukommen, seine Beine glitten weg, sein ganzer Körper schrie vor Schmerz. Aber er bewegte sich vorwärts, Meter für Meter. Jetzt hatte er seinen Verfolger schon eine Weile nicht mehr gehört. Mehran hoffte, dass der Mann sich immer noch von ihm wegbewegte. Doch er konzentrierte sich jetzt nur noch auf das Vorwärtskommen.
Endlich sah er den Wald. Die Bäume, die zuvor eine halbe Ewigkeit entfernt schienen, waren jetzt direkt vor ihm. Nur noch ein klitzekleines Stück.
Er entschied sich. Er würde das letzte Stück rennen. In das Gehölz hinein und weiter der Sicherheit entgegen, die der Wald für ihn bedeutete. Er würde rennen und rennen und nie wieder anhalten. Er würde den stinkenden Graben hinter sich lassen, das Gras, das seine Haut zerschnitten hatte. Nur noch ein ganz kurzes Stück, sagte er sich selbst. Nur noch ein klitzekleines Stück.
Du schaffst es, Mehran. Du schaffst es.
Er schoss aus dem Graben hinaus. Seine Beine trugen ihn erstaunlich gut. Doch in seinem Kopf drehte sich alles, und er verlor schon nach wenigen Metern das Gleichgewicht. Stürzte, rappelte sich jedoch wieder hoch. Lief weiter. Erlangte die Kontrolle über seinen Körper. Wenigstens musste er die schmerzenden Arme nicht mehr benutzen, und als er schneller wurde, spürte er auch wieder Kraft in den Beinen. Er hörte, wie der Mann erneut rief, er solle anhalten, er schrie jetzt, er schien ihn entdeckt zu haben. Mehran drehte sich nicht um. Er rannte einfach weiter, rannte, so schnell er konnte. Lief durch das Gehölz, kam auf das dahinterliegende Feld und dem Wald immer näher. Jetzt waren es noch etwa dreißig Meter.
Keine Schüsse.
Vielleicht würde er es schaffen.
Er sah die Grube erst in letzter Sekunde. Irgendetwas Militärisches, ein Versteck, ein ausgehobener Erdbunker. Er versuchte noch hinüberzuspringen, verlor jedoch auf der anderen Seite das Gleichgewicht und stürzte geradewegs hinein. Er kam unglücklich auf dem einen Fuß auf und schrie vor Schmerz, als sich das Gelenk verdrehte und mit einem widerlichen Geräusch umknickte. Hilflos fiel er rücklings auf den Boden der Grube. Er hielt die Luft an. Versuchte, keinen Laut mehr von sich zu geben, aber es ging nicht. Er weinte, obwohl er es nicht wollte. Er schrie, obwohl er es nicht durfte.
Charles sah, wie der Junge in den Erdbunker stürzte. Er hatte dort selbst schon mehrmals an Übungen teilgenommen und wusste, dass der Bunker perfekt versteckt lag. Das war schließlich auch der Sinn der Sache – dass der Feind ihn nicht entdecken sollte. Als er Zugführer gewesen war, hatte einer seiner Soldaten denselben Fehler gemacht. Es kam ihm so vor, als würde das zu einem anderen Leben gehören. Als das Schlimmste, was passieren
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