Die toten Mädchen von Villette
französischen Offizier verheiratet und daß das Paar wahrscheinlich auf dem Weg nach Algerien gewesen war, als ihr Neffe nach Paris fuhr, um sie zu treffen. Und Philippe hatte gehört, daß Henri Gaumont – der eher sechzig als fünfzig sein mußte, auch wenn er nicht so aussah – in den fünfziger Jahren in Algerien gewesen war. Es war ein Versuch, ziemlich weit hergeholt, aber er hatte zu Ergebnissen geführt.
Philippe erzählte rasch von seinen Versuchen, den Mann aufzuspüren, der vielleicht seine Mutter insKonzentrationslager geschickt hatte und später möglicherweise nach Belgien zurückgekehrt war.
– Ich interessiere mich also für den Neffen, sagte er, und er hieß zu diesem Zeitpunkt vermutlich nicht Roger de Wachter.
– Aha, sagte Gaumont und fingerte nachdenklich an seinem schmalen Schnurrbart, ich erzähle vielleicht zuerst ein wenig vom Hintergrund. Ich kam 1957 nach Algerien, zum ersten Fallschirmjägerregiment, hatte gerade das Examen von Saint-Cyr. Es war das Regiment meines Vaters gewesen, und dahin sollte ich natürlich auch. Das Regiment war damals in Philippeville stationiert, der Hafenstadt im östlichen Algerien. Und einer der Offiziere am Regiment war Major Doumecq, Marcel Doumecq, der mit deiner Philomène verheiratet war. Ich habe Madame Doumecq viele Male gesehen, sie organisierte gern Einladungen für junge Offiziere, sie galt als sehr attraktiv, obwohl sie keine Schönheit war. Aber von so was verstand ich ja nichts. Nun, es gingen viele Gerüchte darüber, wie sie ihren kleinen Finger verloren hatte. Die heißeste Theorie war, daß sie im Krieg in der Widerstandsbewegung gewesen und von den Deutschen gefoltert worden war. Es gab eine Geschichte, die besagte, ein SS-Offizier hätte ihn mit einem Bajonett abgehauen und ihn dann unter Madame Doumecqs Augen an seinen Hund verfüttert. Aber in Wirklichkeit hat sie ihn verloren, als sie sich als kleines Mädchen an einer Tür die Hand eingeklemmt hat, das hat sie mir einmal erzählt.
Philippe konnte nicht an sich halten.
– Ihr habt euch also blutrünstige Geschichten von den Grausamkeiten der Deutschen erzählt? sagte er säuerlich.
Henrik Gaumont sah ihn nachdenklich an und verzog dann den Mund, eher eine Grimasse als ein Lächeln.
– Ja, ich verstehe natürlich, was du meinst, und heute wissen wir alle, daß die Zeit der Kämpfe in Algerien nicht die beste Zeit der französischen Armee war. Aber es gab auch Offiziere, die gegen die Folter protestierten, sogar hochgestellte Offiziere wie General Páris de Bollardière. Na ja, du warst ja an Madame Doumecqs Neffen interessiert, und deshalb habe ich von Gerüchten geredet. Es gingen nämlich auch Gerüchte über einen Pflegesohn von Major Doumecq und seiner Frau, an dem etwas Seltsames war, etwas Schlechtes. Es hieß, daß er Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen war, und es hieß, daß er mit den Rebellen sympathisiert hatte. Er war 1957 nicht mehr in Algerien, das weiß ich sicher. Er war ja kein kleiner Junge, wenn er dein Roger de Wachter war, muß er älter gewesen sein als ich?
– Er ist 1929 geboren, sagte Philippe, 1957 war er schon achtundzwanzig.
– Aha, sagte Gaumont, und er hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon Algeriens Staub von den Füßen geschüttelt. Aber ich habe etwas gehört, das mehr war als ein Gerücht. Ein Gemeiner hat es mir erzählt, ein junger Soldat, der bei einem Angriff zusammen mit mir verletzt wurde, nicht ernstlich, aber wir landeten beide für eine Weile im Krankenhaus. Er war vor ein paar Jahren dabei gewesen, als eine junge Frau unter Folter verhört wurde und starb, das hat ihn furchtbar negativ berührt. Aber sie hatte Kontakt mit Major Coumecqs Pflegesohn gehabt, er wollte ihren Kampf dokumentieren oder so was, aber er hatte sie verraten. Der Offizier, der das Verhör leitete, hat es erzählt, »endlich hat sich dieser Taugenichts mal nützlich gemacht«, hat er gesagt. Danach fand er es wohl nicht angebracht, in Algerien zu bleiben. Er muß sich überall Feinde gemacht haben.
– Weißt du, welchen Namen er benutzt hat? fragte Philippe.
– Nicht de Wachter jedenfalls, sagte Gaumont, und auch nicht Doumecq. Kann er den Mädchennamen seiner Mutter benutzt haben? Ich weiß allerdings nicht, wie sie hieß.
– Frémont, sagte Philippe, seine Mutter hieß Suzanne Frémont.
Gaumont runzelte die Stirn.
– Ja, das kommt mir bekannt vor, sagte er. Frémont und einen von den üblichsten französischen Vornamen. Pierre Frémont? Jean
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