Die toten Mädchen von Villette
Sabrina, Peggy und Nadia auch 1982 Christelle Rolland ermordet hatte. Und nur die sechs auf ihrer Liste waren auch während des Gipfels 1982 in Villette gewesen, also mußte einer von ihnen der Mörder sein. Logisch gesehen schien die Sache klar zu sein, aber im Hintergrund murrte unzufrieden ihre Intuition. Sie meldete sich selten, aber wenn sie einmal die Stimme erhob, hatte sie gewöhnlich etwas Wesentliches zu sagen.
Wenn sie jemanden festnahmen und verhafteten, würden sie schnell herausfinden, ob er mit dem Tatort in Verbindung zu bringen war, dafür hatte der Mörder trotz allem genug Spuren hinterlassen. Aber sie konnten es sich nicht leisten, wieder den falschen Mann festzunehmen, besonders keinen ausländischen Journalisten.
Agnes saß an der Schreibmaschine und schrieb ihre stenografischen Notizen von der Hotelrekonstruktion ins Reine.
– Kannst du bitte die beiden Journalistenlisten aus Villette aus der Akte nehmen, sagte Martine, ich habe allmählich Angst, daß ich einen Namen verpaßt habe.
– Das hast du nicht, sagte Agnes bestimmt, ich bin sie auch durchgegangen, mehrere Male, und es sind die sechs Namen, die auf beiden Listen stehen, nicht mehr. Aber ich nehme die Listen heraus, du kannst selbst nachsehen.
Sie stand auf und nahm die Akte aus dem Regal, als gerade Christian und Annick in den Raum kamen, um gemeinsam Schlüsse aus der Rekonstruktion im Hotel zu ziehen.
– Logisch gesehen spricht alles für Nigel Richards, sagte Martine, als sie sich am Konferenztisch niedergelassen hatten. Er könnte die Flasche Champagner geklaut haben, als Marinelli zur Rezeption runterging und die Tür offen ließ. Er hat gesagt, daß er während des Abends in seinem Zimmer gesessen und gearbeitet hat, aber als Marie-Lou Nawezi gegen zehn ins Zimmer kam, war er nicht da. Er war 1982 hier, und nichts spricht dagegen, daß er Christelle ermordet haben könnte.
Sie sah Christian und Annick an. Christian saß aufrecht ganz vorn auf der Stuhlkante, ein Bild konzentrierter Energie, und beobachtete sie mit wachen dunklen Augen. Annick sah auf den Tisch, biß sich in die Unterlippe und sah aus, als denke sie über etwas nach.
– Aber du glaubst nicht an Richards, sagte Christian, warum nicht?
Martine breitete die Hände aus.
– Es fällt mir schwer zu glauben, daß er ein junges Mädchen dazu bringen könnte, mitten in der Nacht mit ihmeinen Ausflug zu machen. Okay, er arbeitet für eine große und angesehene britische Zeitung, aber das ist eine typische Elitezeitung. Haben Mädchen wie Sabrina und Christelle von ihr überhaupt gehört? Und dasselbe gilt für Marinellis italienische Zeitung.
Annick sah auf und nickte nachdrücklich.
– Außerdem, fuhr Martine fort, kann ich nicht verstehen, warum Richards die allgemeine Aufmerksamkeit darauf richten sollte, daß eine Flasche Champagner verschwunden ist, indem er sie aus Marinellis Zimmer stiehlt. Er hätte wohl seine eigene nehmen können?
– Die war vielleicht schon früher draufgegangen, schlug Christian vor, aber nein, ich stimme dir zu. Dasselbe gilt für Marinelli, er könnte natürlich bei einem kleinen Mordausflug seine Flasche Champagner eingesetzt haben, aber warum sie dann als gestohlen melden? Annick hat es zumindest geschafft, sein Alibi für den Mordabend zu knacken. Aber ich will etwas anderes sagen. Richards hat Asthma, und Marinelli hinkt, das habe ich gemerkt, als ich mit ihnen zum Lunch gegangen bin. Ich glaube, nur ein Bursche in physischem Topzustand hätte den dreifachen Mord geschafft. Wie Professor Verhoeven bemerkt hat, war er elegant ausgeführt. Okay, gehen wir davon aus, daß Sabrina Deleuze arglos und deshalb leicht zu überwältigen war, ohne daß Nadia und Peggy etwas bemerkt haben, und daß es dann ziemlich leicht war, Peggy zu überrumpeln. Aber Nadia Bertrand hätte ohne größere Probleme vor einem hinkenden sechzigjährigen Kettenraucher oder einem Asthmatiker, der gerade unter Einsatz seiner physischen und psychischen Kräfte zwei starke und gesunde junge Mädchen ermordet, davonlaufen können. Etwas stimmt nicht in unseren Überlegungen.
Annick unterbrach ihre Grübeleien.
– Etwas anderes, sagte sie, Madame Poirot hat recht, die Zeitungen, für die Marinelli und Richards schreiben, würden jungen Mädchen wie Sabrina und Christelle nicht imponieren. Ich wurde zwar auch von einem Reporter aufgerissen, aber der kam von einer großen französischen Zeitschrift, einer, die ich kannte, und er hatte einen Fotografen
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