Die toten Mädchen von Villette
Schließlich hatte er sich entschlossen, ein Stück von Strindberg zu verfilmen, das keiner je gespielt hat, mit dem Schwarzen Tod und Mönchen und Soldaten und Königen und Königinnen und so weiter, und Blanche von Namur ist eigentlich keine Riesenrolle. Aber ich bekam die Rolle, und Eskil war von mir besessen und baute den ganzen Film um mich auf, und so wurde es ein Film über Fremdheit in einer Gesellschaft in der Krise.
Sophie sprach jetzt fast vor sich hin. Tatia interessierte sich nicht besonders für Filmgeschichte, aber sie hörte trotzdem mit Interesse zu, weil Sophies Monolog sie auf Ideen brachte, wie sie sie inszenieren sollte. Vielleicht an der Zitadelle in Villette, eine reife Künstlerin, die auf ihre Karriere zurückblickt.
– Das muß unheimlich spannend für dich gewesen sein, sagte sie und betrachtete ein Übersichtsbild vom Drehort.
– O ja, sagte Sophie, aber ich war eigentlich froh, als wir mit den Aufnahmen in Namur fertig waren und nach Schweden zurückkehren konnten. Das waren sehr anstrengende Dreharbeiten.
Sie nahm das Foto und betrachtete es nachdenklich.
– Und es passierte etwas Schreckliches, als wir gerade mit den Dreharbeiten fertig waren. Ein junges Mädchen wurde in Namur ermordet, ein Mädchen in meinem eigenen Alter.
Es war immer noch unanständig früh am Morgen in Massachusetts, USA, aber das war Philippe egal. Er hatteProfessor David Mendels Telefonnummer bekommen, und je früher er anrief, desto größer war die Chance, ihn anzutreffen.
– Hallo? sagte eine schlaftrunkene Frauenstimme mit einem besorgten Unterton; Anrufe im Morgengrauen bedeuten meistens schlechte Nachrichten.
– Ich rufe aus Brüssel an, ich suche Professor Mendel, sagte Philippe bestimmt auf englisch.
Die Frau jenseits des Atlantiks murmelte etwas Undeutliches ins Telefon. Er konnte fast vor sich sehen, wie sie sich im Bett umdrehte und den Hörer murrend zu jemand auf der anderen Seite des Bettes hinüberreichte. Vielleicht hob sie das ganze Telefon vom Nachttisch, um nicht die Schnur quer über sich ziehen zu müssen.
– Hallo, David Mendel hier, sagte eine Männerstimme, auch sie schlaftrunken, aber mit einer Vitalität, die durch die Leitung zu spüren war.
– Guten Morgen, Professor Mendel, sagte Philippe schnell auf französisch, ich heiße Philippe Poirot, ich bin der Sohn von Renée Collignon, falls Sie sich an sie erinnern?
Es wurde still im Hörer, aber er fühlte, daß es ein mit Gefühlen geladenes Schweigen war.
– Sicher erinnere ich mich an Renée, sagte David Mendel schwer, ich erinnere mich sehr gut an sie. Aber das war vor vielen, vielen Jahren. Was hat Renées Sohn so früh am Morgen auf dem Herzen, ich nehme an, es ist etwas, das nicht warten kann, wenn Sie so früh anrufen?
Philippe nahm von dem unausgesprochenen Vorwurf keine Notiz.
– Ich suche einen Mörder, sagte er, Simone Janssens’ Bruder ist ermordet worden, und ich nehme an, derSchlüssel zu dem Mord liegt in der Vergangenheit, in dem, was während des Krieges in der Rue de l’Étoile Polaire passiert ist, und ich glaube, wir müssen ihn schnell finden, bevor er wieder mordet.
David Mendel sagte einen Augenblick nichts. Es klang, als ob er sich im Bett aufsetzte und das Telefon zu sich heranzog.
– Erzählen Sie, sagte er dann.
Und Philippe erzählte, von dem Mord an Eric Janssens und von seiner zunehmenden Überzeugung, daß Roger de Wachter nach Brüssel zurückgekommen und von seinem Nachbarn aus Kindertagen wiedererkannt worden war.
– Ich erinnere mich an Roger, sagte David Mendel, ein unausstehlicher kleiner Junge, der immer Simone nachlief. Nicht besonders klein übrigens, er war größer als ich, und er war eifersüchtig auf mich, weil er glaubte, daß Simone in mich verliebt war und ich in sie. Da irrte er sich, Simone interessierte mich nur als Mathematikerin, sie war eine phantastische Begabung. Nun ja, Roger, Simone sagte immer, eigentlich sei nichts Böses an ihm. Ich war mir da nicht so sicher, und schließlich, glaube ich, fing auch Simone an, sich seinetwegen Sorgen zu machen. Sie hatte ein grünes Notizbuch, in das sie immer hineinkritzelte, eine Mischung aus Tagebuch und Übungsbuch, und darin notierte sie, was ihr zu Roger einfiel, mitten zwischen die Mathematikaufgaben, die ich ihr gab, und Notizen darüber, welche Deutschen Maurice de Wachter besuchten und wann sie es taten.
– Und was wurde aus Simones Notizbuch? fragte Philippe. Er glaubte, daß er zumindest die halbe
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