Die toten Mädchen von Villette
phantastisch ist, der reine Yves Saint Laurent.
Sie sah ihn genauer an. Er hatte eine schlagende Ähnlichkeit mit einem italienischen Renaissanceporträt eines jungen Mannes, das sie in der National Gallery in London gesehen hatte, als sie einmal mit Bert und Bernadette dort gewesen war, und die Jacke unterstrich die Ähnlichkeit.
– Du hast deinen roten Hut vergessen, sagte sie.
Er lächelte sie an.
– Das wäre ein bißchen übertrieben, findest du nicht? Aber ich muß sagen, daß du phantastisch aussiehst, eigentlich bin ich deshalb stehengeblieben, ich bin so glücklich, wenn ich jemanden sehe, der einen durchdachten Stil hat, und dann habe ich bemerkt, daß du Philippe ähnlich siehst.
Tatia trug eine weiße Voilebluse, die sie an einem Flohmarktstand gefunden hatte, und einen selbstgenähten wadenlangen schwarzen Rock. Um den Hals hatte sie ein schwarzes Lederhalsband mit Nieten und um die Taille einen passenden Gürtel. Sie war sehr zufrieden mit demengen Rock, den sie so geschnitten hatte, daß er perfekt saß, aber trotzdem bequem beim Gehen war.
– Ich will Modeschöpferin werden, sagte sie, aber vorläufig durchleide ich noch die Schule. Und du, Giovanni, was machst du?
– Ich arbeite als Friseur, aber ich will Stylist werden und arbeite mit bei Modevorführungen und Modefotografie, ich bin supergut in so was, aber ich habe nicht sehr viele Chancen bekommen zu zeigen, was ich kann. Übrigens, kennst du Denise van Espen? Philippe hat dich erwähnt, als ich über sie und ihren Stil geredet habe, er hat gesagt, das klinge so, als würdest du von ihr sprechen.
Tatia erzählte eifrig von dem puderrosa Abendkleid und wie sie es sich an Denise vorgestellt hatte. Giovanni hörte mit wirklichem Interesse zu, und bald waren sie in ein Gespräch über Stil und Form, über Schein und Wirklichkeit vertieft. Tatia genoß es. Sie traf so selten jemanden, der dieselbe Sprache sprach und dieselben Interessen hatte wie sie. Sie hatten eine halbe Stunde geredet, als Giovanni plötzlich mit einem Ausruf auf seine Armbanduhr sah.
Es war eine Cartier, notierte Tatia, alles an Giovanni war teuer und exklusiv, von den Schuhen bis zu der Sonnenbrille, die er hervorzog, als ihm die Sonne in die Augen schien.
– Ich muß los, sagte er, ich will einen Typen treffen, der mir vielleicht zu einem Stylistenjob verhelfen kann. Aber wir müssen uns wiedersehen, Tatia, wir können durch deinen Vater wieder Kontakt aufnehmen.
Er küßte sie auf die Wange und spazierte über die Grande Place davon. In seiner Botticelli-Jacke sah er aus, als gehöre er dorthin, ein Renaissancejüngling auf einem von Menschen wimmelnden, sonnenüberfluteten Renaissanceplatz. Er drehte sich um und winkte Tatia lächelnd zu,bevor er auf einer der schmalen Straßen, die hinunter zum Kai führten, außer Sichtweite war.
Martine riß die Tür auf und marschierte ohne anzuklopfen zu Jean-Pierre Santini hinein. Ihr war danach, eine Szene zu machen, obwohl sie wußte, daß das nicht besonders klug wäre. Agnes zog zur großen Enttäuschung aller, die ihren Marsch durch den Korridor neugierig verfolgt hatten, vorsichtig hinter ihnen die Tür zu.
Santini stand hinter seinem Schreibtisch auf. Er sah müde und mitgenommen aus, schlampig rasiert mit dunklen Ringen unter den Augen und schiefsitzendem Schlipsknoten.
– Ich sage nicht Willkommen, aber setzen Sie sich meinetwegen. Die Damen möchten vielleicht ein wenig von all der schönen Publicity sehen, die unsere Stadt in den letzten Tagen bekommen hat?
Martine sank auf das elfenbeinweiße Ledersofa. Agnes glättete sich vorsichtig den Rock, bevor sie neben sie glitt. Viele und immer irritiertere Telefongespräche zwischen dem Justizpalast und dem Rathaus hatten sie schließlich hierhergeführt. Zuerst hatte Agnes die Kanzlei des Bürgermeisters angerufen und freundlich gebeten, die Listen der Gäste bei der Pressereise und beim Empfang 1982 zu bekommen. Aber die, mit denen sie gesprochen hatte, hatten nicht gewagt, etwas ohne grünes Licht von ihren Chefs herauszugeben, und schließlich waren sie bei Santini gelandet, der keinerlei Kooperationsbereitschaft gezeigt hatte. Martine hatte zunächst die Absicht gehabt, einen formellen Beschluß zu fassen, um sie zu zwingen, die Listen herauszugeben, aber Agnes hatte sie davon überzeugt, daß es besser wäre, es zuerst mit persönlicher Überredung zu versuchen.
Martines Stimmung war nicht besser geworden durch die Demonstration vor dem Justizpalast, um
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