Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
Das Ganze erinnert entfernt an meine eigene Geschichte, mit Parallelen, die mich und Alderman hätten einander näherbringen können. Seine Frau war Lebensmittel einkaufen und hat ihr Leben durch einen Unfall verloren. Es war ein völlig alltäglicher Vorgang: Du steigst in den Wagen, und eine Stunde später schneidet man dich aus dem Wrack. Ohne böse Absicht dahinter. Nur eine unglückliche Verkettung der Ereignisse für alle Beteiligten. Wäre sie zehn Sekunden früher oder später nach links statt nach rechts abgebogen: Sie wäre in jedem Fall noch am Leben.
Allerdings gibt es auch Unterschiede zwischen uns. Meine Frau und meine Tochter waren nicht mit dem Wagen unterwegs. Sie gingen zu Fuß. Es war auch kein Fahranfänger, der sie überfahren hat, sondern ein geübter Fahrer. Mit Erfahrung in vielen Bereichen. Noch besser als mit dem Fahren kannte er sich mit dem Trinken aus. Er hatte ein endloses Strafregister. Er war Wiederholungstäter. Jedes Mal wenn er angehalten wurde, hat man ihm eine Geldstrafe aufgebrummt und ihm den Führerschein und den Wagen abgeknöpft, doch jedes Mal hat er sie wieder zurückbekommen. Das wurde zur Routine. Er ist einfach immer wieder gefahren, und niemand ist dagegen eingeschritten. Dass die Geldstrafen immer höher wurden, war ihm egal. Er hat einfach weiter gezahlt, zusätzliche Hypotheken aufgenommen, um die Geldstrafen zu bezahlen. Die Behörden konnten nichts dagegen tun, außer kollektiv durchzuatmen und abzuwarten, ob er diesmal jemanden umbringen würde. Niemand fühlte sich dafür zuständig. Solange er zahlte, war er eine Einnahmequelle. Brachte er Geld ein. War er gut für unser Land.
Parallelen und Unterschiede. Am Tag, als wir einen Teil unserer Familie verloren, wurde jeder von uns aus seinem Leben gerissen. Alderman stürzte in einen Abgrund, den er bis jetzt nicht verlassen hat. Und ich habe meinen eigenen Abgrund. Wenn Alderman sich vor Jahren einen Ruck gegeben hätte, wäre er jetzt vielleicht ein anderer Mensch. Aber er hat, wie er selbst sagt, nichts getan. Wäre ich passiv geblieben, wäre ich vermutlich ebenfalls ein anderer Mensch.
Und wären wir jetzt beide bessere Menschen? Möglich. Vielleicht aber auch schlechtere.
»Du hast das Gesetz selbst in die Hand genommen«, sagt er. »Nach dem Unfall, und gestern Nacht. Du hast meinen Sohn getötet. Und das, obwohl er nichts verbrochen hat. Vor zehn Jahren, als Lucy gestorben ist, habe ich mich einfach damit abgefunden. Doch das passiert mir nicht noch mal. Diesmal wirst du dafür bezahlen. Wird deine Frau dafür bezahlen. Und diesmal können deine Freunde bei der Polizei nicht das Geringste tun, um dir zu helfen.«
Im Haus ist es unglaublich kalt, und in diesem Moment sinkt die Temperatur noch weiter. Als hätte man mir einen Eisblock auf den Rücken geschnallt. Ich spüre, wie sein Gewicht mich nach unten drückt und klammere mich am Telefon fest. Die Luft ist feucht und stickig und schmeckt nach saurem Schweiß, und all die Wörter aus den Zeitungsartikeln scheinen herumzuschwirren, als wäre die Druckerschwärze nass und würde zerlaufen.
»Ich hoffe, das ist nur ein bescheuerter Witz von dir, du Scheißkerl.«
»Glaubst du, die Polizei hat auch nur einen Witz gemacht, und mein Sohn ist in Wirklichkeit gar nicht tot? Was meinst du, Tate?«
»Meine Frau hat nichts damit zu tun.«
»Wie kannst du nur so dumm sein zu glauben, dass einem unschuldigen Menschen nichts Schlimmes zusto ßen kann? Schließlich hast du das selbst hautnah erlebt. Gestern Nacht, als du meinen Sohn umgebracht hast. Vor zwei Jahren. Und jetzt gerade.«
Plötzlich ist die Leitung tot. Ich werfe einen Blick auf die Anzeige. Der Akku ist noch voll. Alderman hat also aufgelegt.
Ich rufe ihn zurück. Doch er geht nicht dran.
Ich stürme aus dem Haus zu meinem Wagen. Die Reifen quietschen ein wenig und hinterlassen eine Spur auf dem Asphalt. Ich rase am Friedhof vorbei, wo soeben ein Streifenwagen aufs Gelände abbiegt. Der Fahrer wirft einen Blick über die Schulter, ohne jedoch zu wenden und mich anzuhalten. Während der Friedhof und der Streifenwagen in meinem Spiegel rasch kleiner werden, rufe ich in dem Pflegeheim an, wo meine Frau lebt – falls »leben« der richtige Ausdruck ist. Sie wohnt vielleicht, aber sie lebt nicht. Eine Schwester, mit der ich lediglich ein paarmal gesprochen habe, hebt ab. Ich verlange Schwester Hamilton. Einen Moment später ist sie am Apparat.
»Theo? Was kann ich für Sie tun?«
»Es geht um
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