Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
Rockstar oder die Tochter des Bürgermeisters gewesen wäre, hätte die Sache vielleicht höhere Wellen geschlagen. Aber das wird sich jetzt sowieso ändern. Morgen wird Rachel Tyler in sämtlichen Nachrichten sein. Und die anderen Mädchen ebenfalls. Dann werden sich nicht nur Freunde und Angehörige ihretwegen Gedanken machen. Wenn die Leute ihre Namen und Gesichter sehen, werden sie sich fragen, wie ihre Stadt, um alles in der Welt, zu einer Brutstätte für die Art von Gewalt werden konnte, der diese Mädchen zum Opfer gefallen sind, für die Art von Ignoranz, die so etwas zulässt, ohne nach dem Grund zu fragen.
»Es ist so einfach für Sie, nicht wahr, Theo? Menschen wie Sie glauben, sie könnten einfach herkommen und kriegen, was sie wollen.« Ich bin mir nicht sicher, was er mit Menschen wie mir meint. »Ihr kommt hierher und glaubt, ihr braucht nur zu fragen, und schon breche ich das Beichtgeheimnis und erzähle euch alles. Glauben Sie etwa, dass das alles an mir abprallt? Dass all die hässlichen Dinge, die ich von diesen Leuten zu hören bekomme, keine Spuren bei mir hinterlassen? Dass ich nicht zum Telefon greifen und für Gerechtigkeit sorgen möchte?«
»Warum tun Sie’s dann nicht? Sie hätten diese Mädchen retten können.«
»Und um welchen Preis? Sie haben es immer noch nicht kapiert, was? Glauben Sie etwa, wenn es dabei nur um mich ginge, dass ich es dann nicht getan hätte? Wenn es nur darum ginge, gefeuert und aus der Kirche geworfen zu werden, würde ich mich jederzeit opfern. Aber bei alldem geht es weder um mich noch um Sie, Theo. Und auch nicht um die Mädchen dort draußen. Es geht um Gott. Um unseren Glauben. Es geht darum, eine der ältesten Regeln der Kirche zu respektieren.«
Sein Standpunkt ist in vielerlei Hinsicht angreifbar, aber was soll das bringen? Wir wissen, dass wir beide recht haben. Und wir können nichts daran ändern. Er muss an seinen Überzeugungen festhalten, und ich bin immer noch wütend auf ihn, weil er nichts unternommen hat, um das alles zu verhindern.
»Darum wussten Sie, dass Bruce unschuldig war. Jemand anders hat bei Ihnen die Beichte abgelegt.«
»Das führt zu nichts.«
»Was?«
»Ihr Versuch, die Grenzen zu verschieben und zu fragen, wer nicht die Beichte abgelegt hat, um so den Kreis der Verdächtigen einzuengen.« Er fährt sich mit beiden Händen durchs Haar und streicht über die Vorderseite seiner Soutane.
»Ich denke, das habe ich bereits«, sage ich und beginne, die Artikel wieder einzusammeln.
»Sidney Alderman war’s nicht.«
Am liebsten würde ich ihn am Kragen packen, bis alles, was ich von ihm brauche, aus dem verschlossenen Tresor in seinem Innern fällt, dort, wo er seine Geheimnisse aufbewahrt. Allerdings bin ich auch dankbar. Er wird diese Geheimnisse bewahren, und das gilt auch für mein eigenes.
»Sie lassen einen Mörder davonkommen.« Ich sage das ohne jede Überzeugung. Es ist ein allerletzter Versuch, und ich rechne nicht damit, dass das irgendwas bringt.
Er scheint das zu wissen. »Das wird mich wahrscheinlich bis an mein Lebensende verfolgen.«
Wenn ich ihm erzähle, was Sidney Alderman mit meiner Tochter getan hat, wird er seine Meinung dann ändern? Ich glaube nicht. Das Bild, das der Priester von Sidney Alderman hat, stammt noch von früher. Er hat sich vor drei ßig oder vierzig Jahren mit dem Mann angefreundet, und seitdem hat sich sein Bild nicht verändert. Ich frage mich, was nötig ist, damit Vater Julian einsieht, dass sein Glaube und seine Überzeugungen das einfach nicht wert sind. Gibt es eine Schmerzgrenze? Liegt sie bei einer bestimmten Anzahl? Ein Dutzend toter Mädchen? Hundert?
»Sidney Alderman. Sagen Sie mir, wo er steckt.«
»Ich weiß es nicht.«
»Hat er die Mädchen getötet?«
»Ich möchte, dass Sie jetzt gehen, Theo. Und dass Sie sich an Ihr Versprechen erinnern.«
»Aber Sie können mir doch was über ihn erzählen, oder? Wenigstens über seine Vergangenheit.«
»Sidney ist ein sehr trauriger Mann, Theo. Er hat wie Sie seine Familie verloren. Bestimmt können Sie sich noch an den Tag erinnern, an dem Emily gestorben ist. Sie können das sicher nachempfinden.«
Natürlich erinnere ich mich. Doch ich bin nicht rumgezogen und habe Gräber ausgehoben.
»Was ist vor zwei Jahren mit ihm passiert?«
»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«
Ich stecke den letzten Artikel in den Umschlag. In einem von ihnen steht, dass er vor zwei Jahren in den Ruhestand gegangen ist. Hat das schon gereicht?
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