Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
Zeit hier, Seite an Seite. Anstatt sie zu nutzen, hat irgendein Bauunternehmer seine eigene Ausrüstung angeschleppt, und ich frage mich, was jetzt anders wäre, wenn er nicht hergekommen wäre. Ich sehe mich ein wenig um, doch mir fällt nichts auf – hier drin lagern so viele mögliche Mordwaffen, dass es eine Woche dauern würde, sie alle zu überprüfen. Möglich, dass dieser Schuppen ein Tatort ist.
Unter einer der Werkbänke stapeln sich mehrere Betonziegel. Und an einem Nagel neben dem Fenster hängt eine Rolle aus grünem Seil. Ich drehe es zwischen den Fingern. Es besteht aus Hunderten einzelner Fasern, offensichtlich Hanf. Es ist dasselbe Material, mit dem auch die Leichen umwickelt waren, und auch das hier wäre bei Feuchtigkeit aufgequollen. Unzählige Leute in dieser Stadt benutzen so was.
Ich gehe zum Bagger hinüber. An den Zähnen der Baggerschaufel klebt frische Erde. Sidney Alderman hat damit meine Kleine ans Tageslicht befördert. Wahrscheinlich hat er sie in die riesige Klaue gelegt und ist mit ihr hierher zurückgefahren. Ich sehe mich nach Emily um, doch sie ist nicht hier. Gut möglich, dass in diesem Schuppen vier junge Frauen dem Tod begegnet sind.
Ich klettere in den Bagger und starte den Motor. Der Sitz ist ziemlich unbequem; aus scharfen Rissen im Kunststoffbezug quillt Schaumstoff hervor wie Schnee. Ich ziehe einen der Hebel nach oben, um den Sitz nach hinten zu schieben. Ich bin zwar noch nie mit so einem Gerät gefahren, doch die Funktion der Hebel und Pedale ist klar ersichtlich, so dass ich nach ein paar Minuten Herumprobieren damit klarkomme. Zitternd rollt der Bagger vorwärts. Bei jeder kleinen Vertiefung im Kiesweg hüpft er auf und ab. Die Räder hinterlassen tiefe Spuren im feuchten Rasen.
Meine Tochter zurückzuholen hat jetzt Vorrang, und alles, was in der Zwischenzeit passiert, lege ich in Gottes Hand. Das sollte Vater Julian zufriedenstellen.
Kapitel 22
Da ist dieser Abgrund. Die, die er erwartet, balancieren an seinem Rand, einige leben sogar dort, und dann gibt es jene, die wie von einem Ziegelstein in die Tiefe gesogen werden. Ich habe keine Ahnung, wo ich gerade stehe, und vielleicht ist das eine der Tücken des Abgrunds – man weiß nie, ob man nicht noch weiter abrutschen kann. So sind mir die letzten zwei Jahre vorgekommen. Ich bin in den Abgrund gestürzt, und was ich dort unten gesehen habe, hat mir Angst eingejagt; seitdem habe ich alles versucht, um mich wieder herauszuziehen. Aber vielleicht habe ich mich die ganze Zeit gar nicht von der Stelle bewegt und warte nur auf den Moment, in dem ich noch tiefer sinke.
Ich glaube, dieser Moment ist jetzt da. Allerdings hoffe ich, die Tatsache, dass ich über mich selbst nachdenke, bedeutet, dass mir mein erneutes Abrutschen bewusst ist, dass es noch Hoffnung gibt. So wie ein Verrückter, der sich fragt, ob er verrückt ist, nicht verrückt sein kann.
Wieder versuche ich, Sidney Alderman anzurufen, doch er geht nicht ran. Sein Telefon ist immerhin eingeschaltet, denn nach dem fünften Klingeln springt die Voicemail an. Vielleicht hockt er da und starrt auf sein Handy. Er hat meine Tochter im Kofferraum seines Wagens, darum hebt er nicht ab. Außerdem muss er Vorbereitungen für die Beerdigung seines toten Sohnes treffen, der im kalten Leichenschauhaus unter einem Tuch auf einer Stahlplatte liegt. Er muss einen Sarg und Blumen auswählen, einen Graveur für den Grabstein. Er muss für seinen Sohn einen Anzug aussuchen sowie ein Bestattungsinstitut, und er muss die Leute benachrichtigen. Es gibt tausend Dinge, die ihm durch den Kopf gehen. Aber zuerst muss er sich überlegen, was er mit Emily tut. Und er macht sich Gedanken darüber, was ich mit ihm anstellen werde.
Ich schließe die Augen. Obwohl mich Zweifel an meinem Vorhaben beschleichen, schicke ich ihm eine SMS.
Ich will meine Tochter zurück. Ich schlage dir ein Tauschgeschäft vor. Du wirst darauf eingehen, glaub mir.
Ich hocke immer noch im Bagger, über mir ein derart blauer Himmel wie nur selten diesen Sommer. Mittlerweile stehe ich wieder vor dem Schuppen und habe das Gefühl, hier draußen zu zerfließen. Ich habe fast zwei Stunden für etwas gebraucht, wofür einer der beiden Aldermans wahrscheinlich zwanzig bis dreißig Minuten benötigt hätte. Niemand hat nachgesehen, woher der Lärm kommt. Mitte der Woche sind auf Friedhöfen nur wenige Fußgänger unterwegs, ich hatte diesen Bereich ganz für mich.
Da klingelt das Telefon. Ich klappe es
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