Die Toten Vom Karst
Nicoletta. Ugo war gestern nicht zur üblichen Zeit aus dem Haus gegangen, erst gegen neunzehn Uhr hörte sie seine Schritte oben und kurz darauf die Tür. Das hieß, er fuhr nicht hinaus, trotz des guten Wetters und der Aussichten auf einen ordentlichen Fang. Zum ersten Mal seit unzähligen, langen Jahren. Bruna wußte, daß etwas anders war. Irgend etwas stimmte nicht. Und Ugo kam nicht zurück in der Nacht. Bruna blieb so lange wach, bis im Fernsehen die Wiederholungen begannen. Und am Morgen sah sie in den Nachrichten die Bilder von der Beerdigung in Contovello. Bruna hörte den Namen der Familie. Die Trauerrede des Bürgermeisters kannte sie schon fast auswendig, nachdem sie die Nachrichten auch auf den anderen Kanälen gesehen hatte. Bei der Naheinstellung des schmerzverzerrten Gesichts des alten Gubian vor dem Grab zuckte sie jedesmal zusammen und erinnerte sich daran, was er gestern vor dem Haus zu ihr gesagt hatte.
»Sagen Sie ihm, daß ich ihn umbringe!«
Gubian war so alt wie Ugo und genauso kräftig. Zwei sture, bullige alte Männer. Als sie Ugos Schritte auch am Morgen nicht vernahm, wußte sie: Gubian hatte aus seiner Drohung Ernst gemacht.
Bruna rief Nicoletta um acht Uhr auf dem Mobiltelefon an und teilte ihr die Sorgen mit. Nicoletta war noch am Molo und überwachte wie jeden Morgen die Verladung des Fischs, zeichnete die Wägelisten ab und handelte die Preise aus. Sie war wie immer mißtrauisch und achtete auf jedes Gramm, das die Waage anzeigte. Nicoletta nahm die Worte Brunas nicht sehr ernst und beendete das Gespräch schnell. »Mach dir keine Sorgen, Mamma«, sagte sie. »Ich hab jetzt keine Zeit. Wir sprechen uns später.«
Um halb zehn, als Nicoletta in ihrem Büro saß, rief Bruna wieder an. »Er ist noch immer nicht zurück«, meldete sie ihrer Tochter.
»Bist du nicht bei der Arbeit?« wunderte sich Nicoletta.
»Ich habe gesagt, daß ich später komme. Ich bin sehr, sehr besorgt, Nicoletta!«
»Mamma, laß ihn doch machen, was er will. Nachdem was passiert ist, braucht Papà wahrscheinlich ein bißchen Luft. Er kommt bestimmt bald wieder zurück. Außerdem kannst du sowieso nichts tun.«
»Aber da war doch der alte Gubian aus Pola, Nicoletta. Er hat gesagt, daß er Ugo umbringen will.«
»Ich weiß, das hast du mir gestern schon erzählt. Aber ich glaube nicht daran. So etwas sagt man schnell einmal daher und meint es nicht wirklich. Außerdem ist er alt. Wie will er das machen?«
»Auch Ugo ist alt.«
»Trotzdem! Er wird schon wieder kommen. Laß ihn in Ruhe. Wenn er bis heute abend nicht zurück ist, überlegen wir, was wir tun können. Ciao!«
Den ganzen Tag war Bruna von Unruhe gehetzt. Sie verstand die Fragen der Kunden nicht oder brach mitten im Satz ab, sie schien abwesend und unkonzentriert. Nachdem der Abteilungsleiter ihr zweimal teilnahmsvoll sagte, sie möge nach Hause gehen oder zum Arzt, faßte sie sich schließlich ein Herz und eilte zu ihrer Tochter.
Hastig trippelte sie die Via Battisti hinunter. Sie drehte nicht einmal den Kopf, als sie die stark befahrene Via Carducci bei rot überquerte und nur durch ein Wunder nicht unter die Räder kam. Bruna sah nichts, außer den Sorgen, über die sie sich mit ihrer Tochter beraten wollte. Ein paar Minuten später kam sie an Sant’ Antonio vorbei und bog bei dem Haushaltswarengeschäft in die Via XXX Ottobre ein. Es waren nur noch wenige Schritte zur ehemaligen österreichischen Kaserne, in deren Vorderflügel Nicolettas Laden war.
Bruna lief direkt in ihn hinein und stieß sich das Bein an dem dunkelbraunen, schäbigen Koffer, den er in der Hand trug. Erst als sie sich bei ihm entschuldigen wollte, erkannte sie Gubian. Sie wich erschrocken einen Schritt zurück. Auch Gubian schaute sie unsicher an. Er hatte die Sachen aus der Pension »Blaue Krone« geholt und war auf dem Weg zu seinem Wagen.
»Sie haben ihn umgebracht!« kreischte Bruna. »Sie sind ein Mörder!«
Ein paar Passanten blieben neugierig stehen. Gubian sagte nichts, nahm seinen Koffer wieder auf und versuchte, an Bruna vorbei zu kommen.
»Er ist ein Mörder«, schrie sie. »Halten Sie ihn fest!«
Gubian schaute sie hilflos an und zögerte, er durfte jetzt nicht einfach davon rennen. Diese Frau versuchte, ihn festzuhalten, und jede seiner Bewegungen wäre verdächtig gewesen. Aus dem Dienstgebäude der Guardia di Finanza waren zwei uniformierte Beamte herausgekommen und wollten gerade in ihren Wagen steigen. Als sie Bruna hörten, schlossen sie
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