Die Toten Vom Karst
es die Abendstunden, die sie für ihre Aktionen wählten. In der Dunkelheit führten sie die Menschen ab. Schnell ging unter den Italienern das Gerücht um, daß es nicht nur die Faschisten traf. Man munkelte von privaten Racheakten, von Neid und Mißgunst und altem Streit. Auch Partisanen gehörten zu den Opfern, wenn sie keine Kommunisten waren und sich der Parteidisziplin widersetzten. Es war eine Woche vor der deutschen Okkupation, als sie zu den Marasis kamen. Gubian selbst war nicht dabei. Sie holten Ugos zweiundzwanzigjährige Schwester Violetta mit der scheinheiligen Begründung ab, man bräuchte sie als Krankenschwester. Violetta kam nicht mehr zurück. Ihr Kadaver wurde nach Wochen in halbverwestem Zustand in einer der Foibe gefunden, auf die man zufällig stieß, und irgendwann machte sich das Gerücht breit, sie sei zuvor lange Tage und Nächte in einem anderen Dorf im Schulhaus gefoltert und vergewaltigt worden, bevor man sie in die Foiba warf. Aber schon zu dieser Zeit traute sich niemand mehr, offen zu reden. Ugo hatte Rache geschworen. Er war davon überzeugt, daß Gubian dahintersteckte, weil er nie verkraften konnte, daß Violetta ihn zwei Jahre zuvor hatte abblitzen lassen. Seither hatte er immer wieder Lügen über sie verbreitet und die Marasis öffentlich als Betrüger, Diebe und Ausbeuter bezeichnet.
Auf dem Hügel von San Giusto war es das erste Mal, daß sie sich wieder begegneten. Gubian war 1946 zuletzt in Cittanova, das jetzt Novigrad hieß, gesehen worden. Nachdem niemand mehr von ihm hörte, hatte Marasi gehofft, daß am Ende auch er ein Opfer der eigenen Leute geworden war.
Bruna verlangte gleich bei der Visite ihre Entlassung, und der Oberarzt hatte gefragt, ob sie sich denn schon wieder wohl genug fühlte, um nach Hause zu gehen, und ihrem Wunsch schließlich zugestimmt.
Die Katzen hatten sie freudig begrüßt, als sie die Tür aufschloß, und strichen ihr um die Beine. Sie rief alle bei ihren Namen. In der Küche öffnete sie die Thunfischdosen, füllte die Schüsselchen und stellte sie auf den Boden, die leeren, öligen Dosen daneben, damit sie sie sorgsam ausleckten, und setzte sich in ihren Sessel. Endlich fielen ihr die Augen zu, endlich konnte sie schlafen. Sie war zu Hause und mußte sich keine Sorgen mehr um ihre Katzen machen.
Bruna Saglietti wachte auf, als es mehrmals an ihrer Wohnungstür klingelte. Es würde von alleine wieder aufhören, sagte sie sich und blieb sitzen. Seit Jahren hatte sie niemanden mehr in ihre Wohnung gelassen. Niemand hätte verstanden, warum sie nichts wegwerfen konnte und weshalb all dieses Zeug, das sich an manchen Stellen bis unter die Decke häufte, doch noch einmal von Nutzen sein konnte. Nicht einmal ihre Tochter. Sie hatte immer eine Ausrede gefunden, sie außerhalb zu treffen. Es klingelte immer weiter, zuletzt ohne Pause. Nach zehn Minuten stand Bruna endlich auf und ging leise durch den Flur. Sie blieb mit angehaltenem Atem hinter der Tür stehen und wartete. Schließlich erkannte sie die Stimme, die nach ihr rief.
Sie löschte das Licht im Flur, drehte sich um und überprüfte, daß man nicht in ihre Wohnung sehen konnte. Dann öffnete sie die Tür einen Spalt weit.
»Ich habe geschlafen, Nicoletta. Was willst du?«
»Ich wollte nach dir sehen, Mamma. Bist du in Ordnung?«
»Ja, ja. Mach dir bitte keine Sorgen. Es geht schon.«
»Kann ich reinkommen?«
»Nein, Nicoletta, ich habe nicht aufgeräumt. Bitte nicht!«
»Ich wollte dich im Krankenhaus besuchen. Du warst schon weg. Ich habe Vater identifiziert.«
»Hast du einen Schlüssel?«
»Ja.«
»Dann laß uns hoch gehen.«
Die Wohnung war genau so spartanisch eingerichtet wie damals, als Ugo Marasi eingezogen war. Bruna war noch nie in diesen Räumen, sie kannte sie nur von Ugos Schritten. Mit Erstaunen stellte sie fest, daß Teller und Besteck noch immer die gleichen waren. Auch das Bettzeug hatte so lange gehalten Nur auf dem Fernseher stand ein neueres Farbfoto von Nicoletta neben der alten Schwarzweiß-Aufnahme der jungen, hübschen Violetta von 1943, das er immer wie ein Heiligtum hegte.
Sie blieben in der Küche. Nicoletta räumte das ungespülte Rotweinglas und die Flasche weg, dann setzte sie Kaffee auf.
»Wie sah er aus?« fragte Bruna.
»Nicht schlimm! Eigentlich ganz friedlich. Ich glaube nicht, daß er Angst hatte. Es ist eindeutig, daß er seinen Mörder gut kannte. Es kommt mir vor, als traute er ihm nicht einmal zu, daß er ihn umbrachte.«
»Mußte
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