Die Toten von Bansin
Gäste nach dem Frühstück in ihre Zimmer gehen, um sich anzuziehen, räumt ihre Wirtin den Gastraum auf. Sie wechselt gerade die Tischtücher, als die Familien die Treppe hinunterkommen.
»Sie können gleich hier hinausgehen.« Sophie schlieÃt die Tür zur Strandpromenade hin auf und lächelt ihren Gästen zum Abschied freundlich zu. »Viel Spaë, wünscht sie, »und viel Erfolg bei der Bernsteinsuche!«
Sie will die Tür gerade wieder schlieÃen, als ein plötzlicher Aufschrei ertönt. Der etwa fünfjährige Junge wollte vorlaufen und ist offensichtlich ausgerutscht. Laut weinend liegt er am Fuà der Treppe. Jetzt sieht auch Sophie, dass die Steine von einer spiegelglatten Eisschicht überzogen sind.
»Vorsicht!«, ruft sie erschrocken, aber auch die Mutter ist schon ausgerutscht. Anscheinend ist ihr nichts weiter passiert, sie steht langsam auf, beugt sich über ihren Jungen und hilft auch ihm beim Aufstehen. Der jammert jetzt nur noch leise und hält sich seinen Arm.
Der Vater tastet sich vorsichtig die Treppe hinunter, die anderen Gäste sind an der Tür stehen geblieben.
»Gehen Sie doch wieder hinein«, bittet Sophie leise und blickt ratlos auf die Familie, die unten an der Treppe steht.
»Bleiben Sie bloà oben«, ruft der Mann ihr zu, als sie versuchen will, zu ihnen zu gehen. »Sie werden noch gebraucht.«
Na, Gott sei Dank, er scheint die Sache mit Humor zu nehmen. Trotzdem ist es Sophie unendlich peinlich. »Gehen Sie doch bitte um das Haus herum, zur StraÃenseite«, sagt sie und eilt ihren Gästen durch die Gaststätte entgegen.
Zum Glück hat der dicke Skianzug das Kind weitgehend vor Verletzungen bewahrt, nur ein blauer Fleck am Ellenbogen zeugt von dem Sturz. Sophie ist erleichtert. Dennoch entschuldigt sie sich mehrmals und nimmt sich vor, dem Jungen heute Abend einen Teller mit SüÃigkeiten hinzustellen oder vielleicht auch ein Spielzeug, als Entschädigung für den Schreck.
Als Berta kommt, ist Sophie gerade dabei, Sand auf die Treppenstufen zu streuen.
»Oder soll ich lieber Salz nehmen, was meinst du?«
»Nein, Salz ist nicht gut, das greift die Steine an. Aber wieso ist da überhaupt Eis?«
Sophie sieht ihre Tante ungeduldig an. »Weil Winter ist?«
Berta schüttelt den Kopf. »Die Treppe war noch nie vereist. Durch die Ãberdachung bleibt sie trocken, da liegt kaum mal Schnee drauf. Und auÃerdem waren die letzten Tage zwar frostig, aber trocken, es gibt doch nirgendwo Eis.«
Jetzt wird Sophie auch nachdenklich. »Du meinst, da hat jemand nachgeholfen?«
Ihre Tante nickt energisch. »Das mein ich. Mit Sicherheit. Wahrscheinlich solltest du selbst die Treppe hinunterstürzen, wenn du das Schild rausbringst. Es muss jemand gewesen sein, der genau weiÃ, dass du jeden Vormittag die groÃe Klapptafel aufstellst, die auf den Eingang an der StraÃenseite hinweist«.
»Ein Sturz mit vollen Händen. Das hätte böse ausgehen können.« Sophie schlieÃt die Tür von innen ab. »Also muss ich noch mehr aufpassen. Mann, was ist hier bloà los?«
Anne hört sich am Nachmittag Sophies Bericht an und ist entsetzt. »Du hättest dir alle Knochen brechen können.« Dann blickt sie fragend von ihrer Freundin zu Berta.
»Was denkt ihr? War das Jenny?«
»Ich weià nicht«, beginnt Berta zögernd. »Ob Jenny so weit geht? Sie ist so schwer einzuschätzen.«
Sophie steht auf. »Ich mach uns dann mal Kaffee.«
»Ach.« Anne sieht die beiden Frauen bittend an. »Ich hab überhaupt keine Lust, hier Kaffee zu trinken. Die Adventsstimmung ist mir gründlich vergangen. Wollt ihr nicht auch mal raus? Es ist so schönes Wetter.«
»Warum eigentlich nicht? Stimmt schon, ich brauch auch mal ein bisschen Ablenkung. Und meine Hausgäste kehren erst heute Abend zurück. Kommst du mit, Tante Berta?«
»Ich weià nicht. Wo wollt ihr denn hin? Ich muss aber den Hund mitnehmen.«
»Wie wäre es denn, wenn wir nach Heringsdorf fahren?«, schlägt Anne vor. »Da ist alles so schön geschmückt.«
Eine halbe Stunde später bummeln die Frauen auf dem Steg der mehr als fünfhundert Meter langen Seebrücke. Eine Plexiglaswand in der Mitte schützt sie vor dem kalten Ostwind. Fast am Ende, in der Nähe des Schiffsanlegers, bleiben sie stehen und blicken auf den
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