Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition)
an den sich nie jemand erinnert, war der 11. September 1973, der Tag, an dem der Moneda-Palast bombardiert, Salvador Allende getötet wurde und General Augusto Pinochet die Macht übernahm.«
Falcón packte die Lehnen seines Stuhls und sah Guzmán in die Augen. Mit Schwindel erregender Gewissheit spürte er, dass der Journalist auf der richtigen Spur war.
»Ich war damals fünfzehn Jahre alt«, fuhr Guzmán fort und sah für einen Moment aus wie ein Ertrinkender, der noch einmal sein ganzes Leben vor sich aufblitzen sieht. »Es war auch der Tag, an dem ich meine Eltern zum letzten Mal gesehen habe. Später habe ich erfahren, dass sie zuletzt im Fußballstadion gesichtet wurden, wenn Sie wissen, was das bedeutet.«
Falcón nickte. Er hatte von den Grausamkeiten im Stadion von Santiago gelesen.
»Eine Woche später bin ich aus Santiago zu meiner in Madrid lebenden Tante gebracht worden. Erst später habe ich erfahren, was in dem Stadion geschehen ist«, sagte er. »Wenn die Leute das Datum 11. September erwähnen, denke ich deshalb nie an die Twin Towers und New York, sondern an den Tag, an dem ein paar von den USA finanzierte und von der CIA unterstützte Terroristen die Demokratie in meinem Heimatland ermordet haben.«
»Warten Sie einen Moment«, sagte Falcón.
Er ging nach nebenan, wo Ramírez über eine Tastatur gebeugt saß.
»Hat Elvira uns schon einen Kontaktmann beim FBI genannt?«
»Ich kopiere Vegas Foto gerade in die E-Mail«, sagte Ramírez.
»Du kannst hinzufügen, dass wir inzwischen davon ausgehen, dass es sich um einen Chilenen handelt.«
Falcón ging zurück in sein Büro und entschuldigte sich bei Guzmán, der, die Hände hinter dem Rücken gefaltet, am Fenster stand.
»Ich werde alt, Inspector Jefe«, sagte er. »Seit meiner Ankunft in Sevilla scheint sich mein Gehirn zu verändern. Ich kann mich kaum an meinen Alltag erinnern. Ich sehe mir Filme an, über die ich hinterher nichts erzählen kann. Ich lese Bücher von Autoren, deren Namen mir entfallen. Aber die Tage vor meinem Aufbruch aus Santiago stehen mir gestochen scharf vor Augen. Ich weiß auch nicht, warum. Vielleicht liegt es daran, dass meine Karriere sich dem Ende zuneigt und all das. Die Ereignisse damals waren der Grund, warum ich die Sorte Journalist geworden bin, die ich war.«
»Und noch immer sind«, sagte Falcón. »Obwohl ich überrascht war, Sie hier zu treffen. Ich dachte, Sie schreiben nicht mehr selbst. Ich dachte, Sie wären nur noch der verantwortliche Redakteur.«
»Als die Nachricht von Montes kam, hätte ich jeden hierher schicken können«, sagte Guzmán, »aber dann habe ich gehört, dass Sie die Ermittlung leiten, und einfach beschlossen, dass es Zeit war, Javier Falcón kennen zu lernen.«
»Nun, ich bin froh. Schließlich haben Sie mir möglicherweise zum Durchbruch in dem Fall verholfen.«
»Diese Zeile in Vegas Botschaft ist wirklich seltsam. Sie klingt beinahe poetisch. In ihr liegt viel Emotion«, sagte Guzmán. »Warum glauben Sie, dass ich mit meiner Vermutung über Vega richtig liege?«
»Abgesehen von der Verbindung nach Südamerika, haben wir auch von Diskussionen erfahren, die Vega mit seinem amerikanischen Nachbarn Marty Krugman geführt hat, sowie von einigen Bemerkungen, die er gegenüber Pablo Ortega gemacht hat«, sagte Falcón. »Daraus ergab sich das Bild eines Mannes mit extrem reaktionären Ansichten, antikommunistisch, prokapitalistisch und, was den Unternehmergeist angeht, auch weitgehend proamerikanisch. Aber gleichzeitig missbilligte er offenbar, dass die US-Regierung sich in die Angelegenheiten anderer Länder einmischte, ihre Freunde jedoch fallen ließ, sobald sie nicht mehr gebraucht wurden. In seinem Arbeitszimmer habe ich außerdem einen Ordner mit Berichten über internationale Gerichtshöfe und Baltasar Garzón gefunden. Wenn man das im Zusammenhang mit seinem geheimen Leben und der Tatsache sieht, dass er wahrscheinlich ein militärisch ausgebildeter Südamerikaner mit guten Beziehungen und Kenntnissen der amerikanischen Gesellschaft war, erscheint mir der Typ mehr und mehr wie ein politisch hochmotivierter, enttäuschter Mann, der mit einem für ihn wichtigen Datum in der Hand gestorben ist.«
»Und was glauben Sie, warum er das getan hat?«
»Ich persönlich vermute, dass er ermordet worden ist und mit der Botschaft sichergehen wollte, dass sein Tod als Mord untersucht wird, damit alle Geheimnisse, die er womöglich kannte, entdeckt und der Welt mitgeteilt
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